Tradition und Fortschritt verbinden
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3. Kapitel: Die zehn methodologischen Ebenen wissenschaftlicher Diskurse
Die Fragestellung des dritten Kapitels lautet:
- Wie kann zwischen Wissen (Wissenschaft) auf der einen und
Pseudowissen (Pseudowissenschaft) auf der anderen Seite unterschieden
werden?
- Wie können komplexe wissenschaftliche Analysen evaluiert werden?
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Das Ziel des dritten Kapitels ist, zu zeigen, dass der Unterschied zwischen
Wissen (Wissenschaft), z.B. wissenschaftlicher Politikberatung, auf der einen und
Pseudowissen (Pseudowissenschaft), z.B. subjektiven Ideologien, Utopien, Stammtischparolen oder Wünschen auf der anderen Seite nicht mit einem
Abgrenzungskriterium herausgearbeitet werden kann.
Für eine
Evaluation oder eine
Rechtfertigung von Wissen bedarf es allgemeiner und spezieller Kriterien auf zehn methodologischen Ebenen (vgl.
2. Schaubild).
3.1 Allgemeine und spezielle Abgrenzungskriterien zwischen Wissen (Wissenschaft) und Pseudowissen (Pseudowissenschaft) auf zehn methodologischen Ebenen |
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3.1.1 Ausgangspunkte: Aristoteles’ Organon sowie verschiedene allgemeine Abgrenzungskriterien zwischen Wissen (Wissenschaft) und Pseudowissen
(Pseudowissenschaft) |
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Aristoteles hat verschiedene wissenschaftliche Werkzeuge
nach Werkzeugtypen in
seinem Organon (Werkzeug) klassifiziert, mit
deren Hilfe man Wissen generieren sowie zwischen Wissen und Pseudowissen unterscheiden kann:
- Erster Teil: Die Kategorien, (griechisch peri ton
kategorion, lateinisch categoriae) -
Kategorien oder Lehre von den Grundbegriffen.
- Zweiter Teil: Lehre vom Satz (peri hermeneias, de interpretatione) -
Hermeneutika oder Lehre vom Urtheil.
- Dritter Teil: Lehre vom Schluss (Erste Analytik, analytika protera,
analytica priora) -
Erste Analytiken oder Lehre vom Schluss.
- Vierter Teil: Lehre vom Beweis (Zweite Analytik, analytika hystera,
analytica posteriora) -
Zweite Analytiken oder Lehre vom Erkennen.
- Fünfter Teil: Topik (topoi, topica) -
Die Topik.
- Sechster Teil: Sophistische Widerlegungen (peri ton sophistikon elenchon,
de sophisticis elenchis) -
Ueber die sophistischen Widerlegungen.
Quellen:
Aristoteles 1920 [Organon].
Im
Internet auf "Meine Bibliothek - zeno.org" (Permalink:
http://www.zeno.org/nid/20011779470) gibt es eine andere Übersetzung,
der Übersetzer wird nicht genannt, vgl. Aristoteles: Organon, Permalink:
http://www.zeno.org/nid/20009145680.
Das wohl bekannteste Abgrenzungskriterium, mit dessen Hilfe man
zwischen Wissen und Pseudowissen oder Wissenschaft und Pseudowissenschaft
unterscheiden kann, ist die von Karl Raimund Popper
vorgeschlagene Falsifizierbarkeit als
ein
Abgrenzungskriterium von empirischer Wissenschaft sowie Aussagen
der Logik, der Mathematik auf der einen und Metaphysik, Mythen oder
Pseudowissenschaft
auf der anderen Seite:
"Wir müssen zwischen Falsifizierbarkeit und
Falsifikation deutlich unterscheiden. Die Falsifizierbarkeit führen wir
lediglich als Kriterium des empirischen Charakters von Satzsystemen
ein; wann ein System als falsifiziert anzusehen ist, muß durch eigene Regeln
bestimmt werden. Wir nennen eine Theorie nur dann falsifiziert, wenn wir
Basissätze anerkannt haben, die ihr widersprechen
(vgl. 11, Regel 2). Diese Bedingung ist notwendig, aber
nicht hinreichend, [...] widersprechen der Theorie nur einzelne
Basissätze, so werden wir sie deshalb noch nicht als falsifiziert
betrachten. Das tun wir vielmehr erst dann (hinreichende Bedingung,
Anmerkung JL), wenn ein die Theorie widerlegender Effekt
aufgefunden wird; anders ausgedrückt: wenn eine (diesen Effekt
beschreibende) empirische Hypothese von niedriger Allgemeinheitsstufe, die
der Theorie widerspricht, aufgestellt wird und sich bewährt. Eine solche
Hypothese nennen wir falsifizierende Hypothese" (Popper 2005
[1934]:
62, vgl. insbesondere IV. Kapitel Falsifizierbarkeit, 54-68).
Ein anderes Abgrenzungskriterium hat Paul Lorenzen vorgeschlagen: "Es läßt sich das Prinzip angeben, nach dem die
´kritische Prüfung´ der Rekonstruktionsschritte zu erfolgen hat: alle
Vorschläge sind ´ohne Ansehen der Person´ zu prüfen. Die subjektiven
Interessen sind bei der Prüfung - nach bestem Können - auszuschließen.
Dieses negative Prinzip der Kritik, daß die Subjektivität
´überwunden´, transzendiert werden soll, dieses Prinzip der ´Transsubjektivität´
ist das einzige, das ich für die Unterscheidung von ´vernünftig´ und
´unvernünftig´ zugrunde lege" (Lorenzen 1978:
157, zu Wissenstheorien und allgemeinen Wahrheitskriterien
vgl. 5. Schaubild).
"In einem anspruchsvollen Sinne ist eine Idee ein
Ideal, das Dinge in der Welt besser oder schlechter erfüllen und an dem man
sie misst oder bewertet. Das gilt allemal für die Idee der Wissenschaft"
(Tetens
2013: 17). Das Ideal der Wissenschaft kann Holm Tetens zufolge unterteilt werden oder hat
folgende Kriterien:
- Ideal der Wahrheit
- Ideal der Begründung
- Ideal der Erklärung und des Verstehens
- Ideal der Intersubjektivität
- Ideal der Selbstreflexion.
3.1.2 Eigene Position: Die zehn methodologischen Ebenen wissenschaftlicher Diskurse |
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Wissenschaft bedarf für eine
Evaluation oder eine
Rechtfertigung von Wissen allgemeiner und spezieller Kriterien
auf zehn methodologischen Ebenen.
"Es wird versucht, die
Abstraktionsebenen stärker zu sondern, als dies in
den meisten amerikanischen Darstellungen der Fall ist, bei denen Argumente
der metatheoretischen, theoretischen, methodologischen und
forschungstechnischen Ebene häufig unvermittelt nebeneinander stehen.
Es sei nicht verschwiegen, daß dieser Versuch gelegentlich auch etwas Künstliches
an sich hat“ (von
Beyme 2000 [1972]:
7).
In Anlehnung an die Vorgehensweise von Klaus Gustav Heinrich von
Beyme soll hier versucht werden, die unterschiedlichen
methodologischen Ebenen
wissenschaftlicher Diskurse
voneinander zu trennen. Dabei wird das Ziel verfolgt, die Komplexität
und Vielfalt wissenschaftlicher Diskurse aufzuzeigen,
insbesondere indem die impliziten Annahmen und
Voraussetzungen kenntlich gemacht werden, die sich vor allem in der Wahl
der wissenschaftlichen Werkzeuge
sowie auch in den vorausgesetzten wissenschaftstheoretischen Grundlagen zeigen. Die Unterscheidung
in verschiedene methodologische Ebenen hat sicherlich etwas Künstliches an sich und
kann auch nur idealtypisch vorgenommen werden. Trotzdem wird diese in
der Hoffnung gemacht, dass sie nicht nur von didaktischem
Interesse ist, sondern sowohl für wissenschaftliche Analysen als
auch für die Evaluation von wissenschaftlichen Ergebnissen
zentral sind. Diese zehn methodologischen Ebenen bilden auch die
Gliederung, nach der fast alle
folgenden Schaubilder aufgebaut sind.
Wissenschaftliche Analysen können und müssen meiner Meinung nach auf zehn methodologischen Ebenen
evaluiert werden. Die ersten drei wissenschaftstheoretischen Ebenen
bilden die wissenschaftstheoretischen Grundlagen, in denen über die
Aufgaben, Kriterien und Eigenschaften
wissenschaftlicher Diskurse diskutiert wird. Wissenschaftler übernehmen in der
Regel hier implizit entwickelte Positionen. Weitere sieben Ebenen
sind die wissenschaftlichen Werkzeuge: Begriffe, Sätze, Theorien, Logiken, Argumentationsweisen, Methoden und
methodische Ansätze.
Der Unterschied zwischen Wissen (Wissenschaft), z.B. wissenschaftlicher Politikberatung, auf der einen und
Pseudowissen (Pseudowissenschaft), z.B. subjektiven Ideologien, Utopien, Stammtischparolen
oder
Wünschen, auf der anderen Seite liegt nicht im Inhalt,
dieser kann sogar gleich sein, sondern in der Begründung oder genauer gesagt in der
Vorgehensweise. Eine wissenschaftsbasierte Politikberatung
begründet
Regulierungs- oder Reformvorschläge für ein politisches System mittels wissenschaftlicher Werkzeuge,
die wissenschaftstheoretischen Grundlagen genügen.
Wissenschaftliche
Werkzeuge bieten die Mittel, mit deren Hilfe empirische (deskriptive, explanative und
prognostische) Aussagen
und Aussagensysteme
sowie
praktische (normative, pragmatische und technische) Normen und Regeln
sowie Normierungs- und Regulierungssysteme
hypothetisch
begründet werden. Die wissenschaftstheoretischen
Grundlagen bestimmen die
Aufgaben,
Kriterien und
Eigenschaften des generierten Wissens.
In der Politikwissenschaft genau wie in anderen Fachwissenschaften
stehen vor allem die Methoden und Theorien im Vordergrund,
alle anderen wissenschaftlichen
Werkzeuge sowie die wissenschaftstheoretischen Grundlagen werden oft vernachlässigt. Im
Folgenden sollen alle methodologischen Ebenen wissenschaftlicher Diskurse
systematisch dargestellt werden (vgl. 2. Schaubild).
3.2 Wissenschaftstheoretische Grundlagen:
Aufgaben, Kriterien und Eigenschaften wissenschaftlicher Diskurse |
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Empirie und Rationalität sind die übergeordneten Prinzipien,
denen ein wissenschaftlicher Diskurs genügen muss, da
wissenschaftliche Theorien aus einem logisch-mathematischen
Formalismus und einer empirischen Interpretation bestehen.
Empirie und Rationalität legen auch
die Grenzen wissenschaftlicher Diskurse fest, dadurch dass
Widersprüche ausgeschlossen werden (Satz
vom ausgeschlossenen Widerspruch), Grenzen von axiomatischen Systemen (Unvollständigkeitstheorem), die
Grenzen empirischer Bestätigung und empirischer
Widerlegung und die Falsifizierbarkeit aufgezeigt werden, auf die Mehrdeutigkeit methodologischer Kriterien,
Gewichtungen und Präzisierungen (methodologische
Inkommensurabilität) hingewiesen wird.
Hinzu kommen insbesondere auf dem Feld der
praktischen Werkzeuge die Grenzen von Entscheidungsverfahren
(Unmöglichkeitstheorem), die Prima-facie-Eigenschaft von Normen sowie die
Aporien der praktischen Vernunft.
Sowohl empirisches Wissen als auch
praktisches
Wissen haben einen hypothetischen Charakter, d.h. die Tiefenstruktur rationalen Wissens ist eine
Wenn-dann-Struktur.
3.2.1 Aufgaben und Grenzen wissenschaftlicher Diskurse
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A. Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch (SvW)
Der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch
(SvW) wird schon seit der Antike an die Spitze aller Erkenntnis verortet,
z.B. bei Platon (Platon
1983: 161-162 [Politeia: 434c-437a]), Aristoteles (Aristoteles
1970: [Metaphysik: 1005b 11-34]) oder bei Kant (Kant 1956 [1781 und
1787]: 207-209 [A 150/B 189-A 153/B 193]), vgl.
Brandt 2001: 27-50,
dort sind die entscheidenden Passagen wiederabgedruckt und kommentiert).
"Wer urteilt, muß entweder bejahen oder verneinen
(was Tiere nicht können), und er unterwirft sich damit dem SvW, denn durch
diesen Satz werden Bejahung und Verneinung voneinander unterscheidbar. Der
SvW ist kein Anfang in der Weise, daß alles folgende aus ihm abgeleitet
werden könnte, er muß nur allem Urteilen und Beurteilen vorangehen“
(Brandt 2001: 24-25).
B.
Unvollständigkeitstheorem: Innerhalb eines axiomatischen Systems gibt es unweigerlich
Sätze, die weder bewiesen noch widerlegt werden können. Gödels
Schlussfolgerung lautete, dass jede axiomatische Methode ihre Grenzen hat
und somit im Wesentlichen unvollständig ist, auch eine vollständige
Axiomatisierung komplexer Theorien ist unmöglich (Gödel 1931
und Gödel 2003).
C.
Grenzen empirischer Bestätigung und
empirischer Widerlegung: Instantias
Crucis (Kreuzfälle) bzw. Experimenta
Crucis (Entscheidungsexperimente) und die Duhem-Quine-These:
Francis Bacon behauptet als erster, dass man Theorien eindeutig
empirisch bestätigen kann.
"Dies sind die sogenannten Experimenta crucis, die eine theoretische
Wegscheide markieren und eine eindeutige Ermittlung von Ursachen
ermöglichen sollen (Bacon 1620, II. § 36). Dabei werden zwei Alternativen
entworfen und eine von diesen durch die Erfahrung widerlegt. Dann ist die
andere als richtig erwiesen" (Carrier 2006: 25).
"Zu den vorrangigen Fällen
rechne ich an vierzehnter Stelle die Fälle des Kreuzes. Die
Bezeichnung ist von den Kreuzen an Scheidewegen, die die sich trennenden
Wege zeigen, genommen. Man kann sich auch gewöhnen, sie
entscheidende, richtende, manchmal auch orakelmäßige und gebietende
Fälle zu nennen"
(Bacon 1990 [1620]: 439,
36. Aphorismus, Teilband 2).
"Inter Praerogativas Instantiarum, ponemus loco decimo quarto
Instantias
Crucis; translato vocabulo a Crucibus, quae erectae in biviis indicant et
signant viarum separationes. Has etiam Instantias Decisorias et
Judiciales,
et in casibus nonnullis Instantias Oraculi et Mandati, appellare
consuevimus" (Bacon 1990 [1620]:
438, 36. Aphorismus, Teilband 2).
Duhem-Quine-These:
Duhem (1978
[1906]) hat zuerst bestritten, dass es solche Experimenta Crucis geben kann:
"Aus Duhems Analyse des Verhältnisses von Experiment, Gesetz und Theorie
ergibt sich zwangsläufig eine ´holistische´ Auffassung der
Wissenschaft. Das will folgendes besagen: Die experimentelle Überprüfung
einer bestimmten Hypothese ist nur dadurch möglich, daß von einer ganzen
Gruppe weiterer Gesetze - letztlich der gesamten Theorie - Gebrauch
gemacht wird. Sollte das Experiment negativ ausfallen, richtet sich mithin
der Widerspruch nicht gegen diese einzelne Hypothese, sondern gegen das
gesamte theoretische Gefüge, das bei der Überprüfung in Anspruch genommen
werden mußte. Allenfalls das Ganze einer physikalischen Theorie muß falsch
genannt werden. Kein Experiment kann jedoch zeigen, an welcher Stelle des
Systems der Fehler steckt. Also ist die an das experimentum crucis seit
Bacons Tagen gebundene Hoffnung, auf diese Weise alternative Hypothesen
eliminieren zu können, preiszugeben: ein Entscheidungsexperiment zwischen
konkurrierenden Hypothesen ist unmöglich" (Schäfer 1978: XXVI-XXVII).
Quine verallgemeinert den von
Duhem (1978
[1906]) für die Physik festgestellten Zusammenhang auf die Gesamtwissenschaft: "Die Einheit
empirischer Signifikanz ist die Wissenschaft als gesamte" (Quine 1979a [1953]: 46),
weil die "Annahme, daß jede Aussage unabhängig und isoliert von anderen
Aussagen bestätigt bzw. geschwächt" werden könne, deshalb verfehlt ist,
weil "unsere Aussagen über die Außenwelt nicht als einzelne Individuen,
sondern als ein Kollektiv vor das Tribunal der sinnlichen Erfahrung
treten" und "Wissenschaft ist, kollektiv betrachtet, sowohl von
Sprache wie von Erfahrung abhängig; doch dieser Doppelcharakter kann nicht
sinnvollerweise bis in die einzelnen Aussagen der Wissenschaft, jede für
sich genommen, verfolgt werden" (Quine 1979a [1953]: 45).
D.
Falsifizierbarkeit oder die
prinzipielle Unbegrenztheit des Begründungsgesetzes: Die
Falsifizierbarkeit von Wissen bildet eine weitere Grenze
wissenschaftlicher Diskurse
(Popper 2005
[1934]:
62, vgl. insbesondere IV. Kapitel Falsifizierbarkeit, 54-68). Meiner Meinung nach kann sich der Fallibilismus als Abgrenzungskriterium zwischen
Wissenschaft und Pseudowissenschaft nur bedingt bewähren und zwar als ein
allgemeines Kriterium unter vielen. Daneben erfordert die Abgrenzung noch weitere
spezifische Kriterien auf zehn methodologischen Ebenen, so wie dies ausführlich in diesem Kapitel begründet wird.
F. Methodologische
Inkommensurabilität (Kuhn-Unterbestimmtheit): "Gemeint ist
damit, dass die Beurteilung der Leistungsfähigkeit alternativer Hypothesen
und Theorien wegen der Mehrzahl und Mehrdeutigkeit methodologischer
Kriterien Gewichtungen und Präzisierungen verlangt, über die ein
begründeter Konsens kaum zu erzielen ist. Deshalb wird auch dann kein
eindeutiges Urteil über Hypothesen und Theorien erreicht, wenn
nicht-empirische, epistemische Leistungsmerkmale hinzutreten" (Carrier 2006:
105, vgl.
Kuhn 1977,
insbesondere das 13. Kapitel: Objektivität, Werturteil und Theoriewahl, 421-445).
Die methodologische Inkommensurabilität muss von der
allgemeinen Inkommensurabilität, die im Falle von wissenschaftlichen Revolutionen
einen Paradigmenwandel bewirkt und damit zu einem Zusammenbruch der
wissenschaftlichen Kommunikation aufgrund von unüberbrückbaren
Diskontinuitäten führt, unterschieden werden (Kuhn 1976
[1962],
Feyerabend 1986 [1975]).
"Grob vereinfacht gesprochen wird
Inkommensurabilität (gemeint ist hier die allgemeine Inkommensurabilität,
Anmerkung JL) die spätestens seit Kuhn und Feyerabend das Verhältnis
zwischen zwei relativierenden Bezugssystemen charakterisiert, wenn sie
konflikthaft konkurrieren und wenn trotzdem keines von beiden privilegiert
werden kann. Inkommensurabilität ist der Begriff, der einen absoluten
Geltungsanspruch negiert, indem er konfligierende Ansprüche schlicht als
unvergleichbar behandelt" (Hönig
2006: 15). Diese generelle These wird bestritten, die methodologische
Inkommensurabilität gilt und besagt, dass es keine eindeutigen Urteile über
Hypothesen und Theorien geben kann.
G.
Unmöglichkeitstheorem
oder
Arrow-Paradoxon:
Ein weiteres Beispiel für die Grenzen der praktischen Vernunft ist das
Unmöglichkeitstheorem von Kenneth Joseph Arrow 1963
[1951]): Die Aggregation individueller Präferenzen zu einer
widerspruchsfreien und vollständigen sozialen Wohlfahrtsfunktion ist unmöglich,
in der alle individuellen Präferenzen der Bürger aggregiert werden. Kein Entscheidungsverfahren
ist in der Lage, gleichzeitig die folgenden Anforderungen zu erfüllen:
- Universalität/Vollständigkeit: Alle logisch gerechtfertigten
Präferenzordnungen der Individuen sollen zugelassen werden (Condition 1:
Universality, Arrow 1963
[1951]: 24).
-
Transitivität: Wenn jeder die Alternative x der Alternative y vorzieht,
dann soll auch die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zu dieser Entscheidung
kommen (Condition 2: Positive
Association of social and individual Values, Arrow 1963
[1951]: 25-26).
-
Unabhängigkeit: Irrelevante Alternativen
dürfen den Entscheidungsprozess nicht beeinflussen (Condition 3: The Independence
of Irrelevant Alternatives, Arrow 1963
[1951]: 26-28).
-
Souveränität: Die soziale Wohlfahrtsfunktion darf nicht von
außen vorgegeben
werden (Condition 4: Citizens´
Sovereignity, Arrow 1963
[1951]: 28-30).
- Keine Diktatur: Ein Individuum darf die
Rangordnung nicht diktieren. In der Gesellschaft darf kein Diktator in
Erscheinung treten, der die Rangordnung manipuliert (Condition 5: Nondictatorship, Arrow 1963
[1951]: 30-31).
H.
Prima-facie-Eigenschaft von Normen
(Ross 1967
[1930]) und politischen
Handlungsmaximen, d.h., dass von
Handlungsmaximen nicht direkt auf
Handlungsanweisungen geschlossen werden
kann (zu den Begrifflichkeiten vgl. 5.4.3 Praktisch-politische (normative, pragmatische und technische) Begriffe und Diskurse).
I. Aporien praktischer Vernunft: Die moderne Welt
erweitert den Handlungsspielraum des Einzelnen, dies wird aber mit einer
Komplexität erkauft, die ihrerseits neue Probleme generiert: "[W]eil
zugleich mit der Erweiterung des Handlungsspielraum das individuelle
Handeln in rasch zunehmenden Maße in Verbundsysteme eingefügt wird,
in denen sich der Einzelne nur noch als Funktionsglied innerhalb
vielfältiger, für ihn selbst kaum mehr überschaubaren
Kooperationsstrukturen vorfindet. Deshalb ist es heute für den
Einzelnen ungleich schwerer als in früheren Zeiten, sich in seinem Handeln
darüber klar zu werden, was er eigentlich tut" (Wieland
1999a: 101).
Anonymisierung,
Juridifizierung und Probalisierung sind die drei großen
Herausforderungen in einer komplexen Welt, die diese neuen Strukturen des
Handelns innerhalb von vielfältigen Institutionen erst erzeugen
und die Wolfgang Wieland hervorragend am Beispiel der Medizin
herausgearbeitet hat (Wieland
1986: 56-132).
"Die praktische Vernunft ist darauf aus, die
Welt des Handelns nicht nur zutreffend zu beurteilen, sondern auch
nach ihrer Idee zu gestalten. Deshalb geht es ihr darum, allgemeingültige
Normen zu begründen, aber auch darum, diese Normen auf individuelle
Handlungen und Situationen anzuwenden. Sie will überdies den Handelnden zu
einem Verhalten motivieren, das den so angewendeten Normen entspricht.
Schließlich strebt sie danach, die Ordnungen zu gestalten, deren der
Mensch bedarf, um mit seinesgleichen auf vernünftige Weise zusammenleben
zu können. Sie kann sich diesen Zielen annähern, doch sie erfährt dabei, daß sie sich in
Aporien verfängt, wenn sie, statt sich mit Annäherungen zu
begnügen, prinzipielle Lösungen erzwingen will. Ihre Kraft reicht nicht
aus, die Aufgaben, die sich im Umkreis von Applikationen und Motivationen
stellen, mit dem Anspruch auf Endgültigkeit zu bewältigen; sie ist zu
schwach, für die Institutionen, in denen sie sich vorfindet und deren
Existenz sie fordern muß, Bedingungen durchzusetzen, denen jede Herrschaft
von Menschen über Menschen genügen muß, wenn sie gerechte Herrschaft sein
soll. Nur unter utopischen Bedingungen könnten sie ihren Aporien entgehen" (Wieland 1989:
46). "Doch solche Bedingungen sind kontrafaktisch" (Wieland 1989:
47).
Folgende Aporien der praktischen Vernunft rekonstruiert Wolfgang Wieland 1989:
- Applikationsaporie als Inbegriff der
Schwierigkeiten, die sich aus der Anwendung genereller Normen auf
konkrete
Situationen ergeben: "Der Name der Applikationsaporie soll hier
der Inbegriff der Schwierigkeiten bezeichnen, die sich aus der
Notwendigkeit ergeben, generelle Normen auf individuelle, konkrete
Situationen anzuwenden" (Wieland 1989:
13).
-
Motivationsaporie, die die grundsätzliche Frage aufwirft, warum man
sich überhaupt nach einer Norm richten soll: "In die Motivationsaporie gerät, wer wissen will, warum er sie
(Normen, Anmerkung JL) überhaupt anwenden soll" (Wieland 1989:
25). "Damit ist der Weg in die Motivationsaporie vorgezeichnet: Sie ergibt
sich, weil sich Fragen nach der Motivation zur Vernünftigkeit und nach der
Vernünftigkeit der Motivation gegenseitig fordern, ohne jemals zur Ruhe zu
kommen" (Wieland 1989:
31).
-
Institutionsaporie, in der die Abhängigkeit von Institutionen
zum Ausdruck kommt, das Widerstandsrecht ist ein Beispiel eines Antagonismus zwischen individueller
Vernunft und einer Institution der Rechtsordnung: "Sie (Institutionsaporie,
Anmerkung JL) ergibt sich deswegen, weil die praktische Vernunft
nicht umhin kann, ihren normativen Anspruch auch auf die Welt der
Institutionen zu erstrecken, und gerade dabei zugleich erfahren muß, wie
sehr sie von dieser Welt abhängig und wie sehr sie zur Sicherung ihrer
eigenen Existenz auf sie angewiesen bleibt" (Wieland 1989:
36).
"Traditionellerweise bezeichnet der Begriff des Widerstandsrechts
den Punkt, an dem der stets mögliche Antagonismus zwischen der
individuellen Vernunft und den Institutionen der Rechtsordnung
und damit die Institutionsaporie in verschärfter Gestalt sichtbar wird.
Aus der Idee einer praktischen Vernunft läßt sich die Notwendigkeit einer
Rechtsordnung ebenso begründen wie die Pflicht des Individuums, sein
Handeln an den Forderungen dieser praktischen Vernunft auszurichten. Eine
Aporie ergibt sich jedoch, wenn das Individuum die unmittelbaren
Forderungen dieser Vernunft mit den im Namen der institutionellen Ordnung
erhobenen Ansprüchen nicht mehr in Übereinstimmung bringen kann. Niemand
kann eine Position beziehen, von der aus er einen Konflikt zwischen beiden
Instanzen zu entschärfen hoffen könnte" (Wieland 1989:
41-42).
J.
Die Sein-Sollen-Grenze ist zwar keine ontologische Grenze. Es wurden auf der
Logikebene sowie auf der Argumentationsebene meiner Meinung nach triftige
Argumente für eine Trennung dieser Bereiche vorgebracht (vgl.
4. Kapitel).
K. Wenn-Dann-Struktur wissenschaftlicher Sätze, d.h. trotzdem
keine Relativität des Anspruches,
die Beziehung
zwischen Voraussetzung und Folge enthält einen
absoluten Wahrheitsanspruch, es handelt sich bei wissenschaftlichen Analysen um
Erkenntnis von
Sachverhalten unter Voraussetzungen.
"Analysiert man nämlich eine solche Aussage auf ihre Tiefenstruktur hin,
so zeigt sich dabei fast immer ein Gebilde vom Typus der hypothetischen
Aussage, also einer Wenn-Dann-Aussage. Mit ihrer Hilfe läßt sich nicht
behaupten, irgend etwas sei schlechthin der Fall, sondern immer nur, es
sei der Fall, wenn bestimmte Voraussetzungen gegeben sind. [...] Die
hypothetische Tiefenstruktur der theoretisch-wissenschaftlichen
Aussage zeigt, entgegen einem verbreiteten Mißverständnis, durchaus
keine Relativität ihres Wahrheitsanspruches an. Zwar wird der
Geltungsanspruch jeder Elementaraussage gleichsam relativiert, wenn sie
mit einer Hypothese verknüpft wird und nur noch als Glied derartiger
Verknüpfungen von Interesse ist. Wenn man jedoch die Existenz einer
entsprechenden Beziehung zwischen Voraussetzung und Folge behauptet, so
ist wenigstens mit dieser Behauptung der Anspruch verbunden, schlechthin
und ohne Einschränkungen zu gelten. Die neuzeitliche Wissenschaft
hat es daher nicht einfach mit der Erkenntnis von Sachverhalten, sondern
mit der Erkenntnis von Sachverhalten unter Voraussetzungen zu tun"
(Wieland 1986:
31).
3.2.2 Kriterien wissenschaftlicher Diskurse |
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Mit Hilfe von Rationalitätspostulaten werden allgemeine Kriterien an wissenschaftliche Diskurse formuliert, damit methodologische (argumentative, logische, methodische und sprachliche) Präzision gewährleistet werden kann.
A.
Intersubjektivität (Transsubjektivität):
Wissenschaft sucht nach Wegen, auf denen sie Begründungen findet, die jeder
vernünftige und
sachkundige Mensch nachvollziehen kann.
B.
Objektivität: Subjektive Wünsche oder Vorurteile
dürfen nicht in die Arbeit einfließen, sondern nur intersubjektive
Gründe.
C. Reliabilität: Die Ergebnisse wissenschaftlicher
Untersuchungen sollten unter den gleichen Bedingungen
reproduzierbar sein.
D.
Validität: Ein wissenschaftliches Ergebnis muss ein
argumentatives Gewicht besitzen und methodisch-logische
Qualitätskriterien erfüllen. Argumentative, logische, methodische und sprachliche
Präzision sind erforderlich (vgl.
Druwe 1995:
21-24).
3.2.3 Eigenschaften von Aussagen, Normen und Regeln sowie regulative Ideen innerhalb wissenschaftlicher Diskurse |
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Folgende regulative Ideen sowie Prädikate für Aussagen, Normen und Regeln werden in wissenschaftlichen Diskursen verwendet:
- Wahrheit,
- Gültigkeit (Richtigkeit), Gerechtigkeit,
- Klugheit, Wünschbarkeit,
- Effektivität (Details vgl. 4.3.6 Eigenschaften
wissenschaftlicher Diskurse).
3.3 Wissenschaftliche Werkzeuge: Begriffe, Sätze, Theorien, Logiken, Argumentationsweisen, Methoden und methodische Ansätze |
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3.3.1 Begriffsebene: Empirische (quantitative bzw. metrische und qualitative bzw. klassifikatorische) versus praktische (normative, pragmatische und technische) Begriffe.
3.3.2 Satzebene: Empirische (quantitative bzw. metrische und qualitative bzw. klassifikatorische) versus praktische (normative, pragmatische und technische) Sätze.
3.3.3 Theorieebene: Empirische (quantitative bzw. metrische und qualitative bzw. klassifikatorische) versus praktische (normative, pragmatische und technische) Theorien.
3.3.4 Logikebene: Aussagen- und Prädikatenlogik sowie Modallogiken. Unterschied zwischen Sein-Sollen-Logik und Tun-Sollen-Logik.
3.3.5 Argumentationsebene: Empirische versus praktische Argumentationsweisen.
3.3.6 Methodenebene: Empirische versus praktische Methoden.
3.3.7 Ebene der methodischen Ansätze: Empirische versus praktische methodische Ansätze
(vgl. detaillierte Analyse im 4. Kapitel).
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