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5. Kapitel: Strukturelle Unterschiede: Werkzeugtypen, Wissensformen, Wissenschaftstypen, Wissen versus Können sowie Theorie versus Praxis

Folgende Fragen werden im fünften Kapitel behandelt:

  1. Welche Unterschiede gibt es zwischen verschiedenen Werkzeugtypen auf den zehn methodologischen Ebenen?
  2. Welche Unterschiede gibt es zwischen empirischen (deskriptiven, explanativen und prognostischen) und praktischen (normativen, pragmatischen und technischen) Wissensformen?
  3. Welche Unterschiede gibt es zwischen empirischen (deskriptiven, explanativen und prognostischen) und praktischen (normativen, pragmatischen und technischen) Wissenschaften?
  4. Welche Unterschiede gibt es zwischen Theorie und Praxis?
 
   

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Das Ziel des fünften Kapitels ist, die Charakteristika (Aufgaben, Gegenstandsbereich, Ziele, Wissensformen, Aufgaben, Kriterien, Eigenschaften sowie wissenschaftliche Werkzeuge) von empirischen und praktischen Wissenschaften erläutern, explizieren, präzisieren, rekonstruieren oder weiterentwickeln.

Weiterhin werden die Unterschiede zwischen verschiedenen Wissensformen sowie zwischen Theorie und Praxis aufgezeigt (vgl. 5. Schaubild). Die Unterschiede zwischen empirischem und praktischem Wissen sowie empirischen und praktischen Wissenschaften (vgl. 6. Schaubild und 7. Schaubild) werden mit Hilfe der unterschiedlichen Werkzeugtypen begründet, erläutert, expliziert, präzisiert, rekonstruiert oder weiterentwickelt.


5.1 Struktureller Unterschied zwischen verschiedenen Werkzeugtypen auf zehn methodologischen Ebenen Seitenanfang

Auf sieben methodologischen Ebenen (auf der Ebene der Begriffe, Sätze, Theorien, Logiken, Argumentationsweisen, Methoden und methodischen Ansätzen) sowie auf der Ebene der Eigenschaften wissenschaftlicher Diskurse wurden im 3. Kapitel grundsätzliche Differenzen zwischen empirischen und praktischen Werkzeugen festgestellt, die es rechtfertigen, zwischen verschiedenen Werkzeugtypen zu differenzieren (2. Schaubild sowie 4. Schaubild).

Aufgrund der zentralen Bedeutung wissenschaftlicher Methodologie begründen diese Werkzeugtypen auch einen strukturellen Unterschied zwischen empirischen und praktischen Wissenschaften sowie empirischem und praktischem Wissen (vgl. 5. Schaubild).


5.2 Struktureller Unterschied zwischen verschiedenen Wissensformen Seitenanfang

5.2.1 Ausgangspunkt: Allgemeine Bedingungen des Wissens Seitenanfang

Die Wissensphilosophie ist einer der wichtigsten Bereiche der Philosophie und hat eine lange Tradition. Im Theaitetos stellt Platon drei verschiedene Konzepte des Wissens zur Diskussion, ohne dabei eine definitive Antwort zu finden. In Platons Dialogen werden an einigen Stellen (Platon 1983f: 169-172 [Theaitetos: 200d-201e], Platon 1983b: 38-40 [Menon: 97a-99a], vgl. Hintikka 1974, Wieland 1999 [1982]) zwei Bedingungen des Wissens (Rechtfertigung und Wahrheit) formuliert, die auch heute noch in jeder wissenschaftlichen Definition von Wissen bzw. in modernen Theorien des Wissens nicht fehlen. Hingegen ist umstritten, mit Hilfe welcher Bedingungen Wahrheit und Rechtfertigung nachgewiesen werden können.

"Dies (gemeint ist Menon 97e ff., Anmerkung JL) ist die klassische Stelle für alle, die bei Platon das Wissen als eine durch bestimmte Merkmale qualifizierte Meinung verstehen und es damit im strikt propositionalen Sinne deuten. Doch Sokrates will sich auch im Zusammenhang dieser Erörterung für eine solche Art der Abgrenzung zwischen Wissen und Meinung keineswegs stark machen. Der Gewißheitsgrad, den er für diese Abgrenzung selbst in Anspruch nimmt, ist nicht der des Wissens, sondern der der Vermutung. Stark machen will er sich aber dafür, daß Wissen etwas anderes ist als richtige Meinung." [...]

"In diesem Dialog (gemeint ist Theaitetos, Anmerkung JL) wird die kategoriale Differenz zwischen Wissen und Meinung besonders stark betont. In einem Durchgang wird der Versuch, Wissen als Wahrnehmung zu deuten, zurückgewiesen. Ein zweiter Durchgang versucht, Wissen als wahre Meinung zu deuten. Auch dieser Ansatz kann einer genaueren Prüfung nicht standhalten. Ein dritter Durchgang will das Wissen als mit Begründung versehene richtige Meinung verstehen. Sokrates zeigt indessen, daß auch diese Deutung unhaltbar ist. Durch Qualifikation oder Spezifikation der Meinung gelangt man offenbar niemals zum gesuchten Wissen. Das ist eine der Lehren, die man aus dem ´Theaitetos´ ziehen kann, auch wenn der Dialog diese Lehre nicht in dieser Formulierung selbst vorträgt" (Wieland 1999 [1982]: 306).

Edmund Gettier (1987 [1963]) hat 1963 in einem Aufsatz von zwei Seiten gezeigt, dass Wahrheit und Rechtfertigung allein nicht ausreichen, und damit eine Flut an Publikationen angestoßen, die heute nur noch von Spezialisten überblickt werden können. Ich konzentriere mich auf wichtige Werke (Lehrer 1990, Enskat 2005, Kornwachs 2012), um kurz die Zielsetzung und Vorgehensweise darzustellen, wenn es um allgemeine Bedingungen des Wissens geht.

Keith Lehrer (1990) kommt in einer "Final Analysis of Knowledge" zu folgendem Ergebnis bzw. ihm zufolge muss Wissen folgende Bedingungen erfüllen:
S knows that p if and only if
(i) it is true that p,
(ii) S accepts that p,
(iii) S is completely justified in accepting that p, and
(iv) S is completely justified in accepting that p in some way that does not depend on any false statement
(Lehrer 1990: 18. Letzte Bedingung zur Vermeidung des Gettier-Problems, demzufolge eine Meinung durch Zufall oder gar aufgrund von falschen Voraussetzungen wahr sein kann, vgl. Gettier 1987 [1963]).

Lehrer (1990) liefert nur im ersten Kapitel eine Analyse des Wissens (The Analysis of Knowledge, Lehrer 1990: 1-19) und damit der zweiten, dritten und vierten Bedingung, die anderen acht Kapitel widmet er der Analyse von Wahrheit und Wahrheitstheorien und formuliert eine Kohärenztheorie der Wahrheit und setzt sich damit mit seiner ersten Bedingung auseinander.

Rainer Enskat (2005) formuliert folgende Bedingungen für authentisches Wissen:

"Die Person N.N. weiß, daß-p, dann und nur dann, wenn:
1.) N.N. weiß, wie man in erfolgsträchtiger Weise untersuchen kann, ob-p, oder ob-nicht-p;
2.) N.N. hat so, wie man in erfolgsträchtiger Weise untersuchen kann, ob-p, oder, ob-nicht-p, oft genug selbst, also in authentischer Weise, untersucht,  ob-p, oder ob-nicht-p;
3.) N.N. hat oft genug selbst fehlerlos untersucht,  ob-p, oder ob-nicht-p;
4.) N.N. ist oft genug selbst,  also in authentischer Weise, zu dem Urteil gelangt, daß-p;
5.) N.N. hat oft genug selbst erkannt, daß-p;
6.) es ist wahr, daß-p" (Enskat 2005: 124, vgl. auch 76, 95, 111, 116 und 324).

"Die Konzeption des authentischen Wissens verbindet die propositionalistische Bedingung, daß ein Wissen, das diesen Namen verdient, in wahren Sätzen muß formuliert, mitgeteilt und dokumentiert werden können, mit einer speziellen nicht-propositionalistischen Bedingung: Das propositionale Wissen verdient den Namen eines Wissens nur dann, wenn es von Haus aus auch durch eine Authentizität geprägt ist, mit der es von einer konkreten, leibhaftigen Person selbst, eben in authentischer Weise erworben wird" (Enskat 2005: 14).

Rainer Enskat (2005) konzentriert sich nur auf seine ersten fünf Bedingungen und damit auf eine leibhaftige Person, der Wissende oder das erkennende Subjekt. Die personale Verankerung von Wissen steht also im Vordergrund. Die Wörter "Wahrheit" oder "Wahrheitstheorien" tauchen noch nicht einmal in dem umfangreichen Sachregister auf, das Wort "Wahrnehmung" indes recht häufig.

Auch Klaus Kornwachs (2012: 237, siehe auch 223-278) stützt seine Überlegungen auf die seit Platon formulierten Wissenstheorien. Dabei unterscheidet er folgende Wissensarten:

  1. faktuales Wissen (Bericht über Fakten),
  2. prognostisches Wissen (zeitabhängige Aussage),
  3. explanatives Wissen (kausal, deduktiv-nomologische Erklärung),
  4. explanatives Wissen (praktisch, praktischer Syllogismus),
  5. normatives Wissen (Ziele, Metamotivationen),
  6. logisches Wissen (Kalküle, Theoreme),
  7. definitorisches Wissen (Definitionen, Konventionen über Begriffsbildungen) und
  8. instrumentelles Wissen (Regeln der Methodik).

Hinzu kommt eine weitere Unterscheidung: "Explizit ist das Wissen, wenn es sich in Form von Richtlinien, Normen, Leistungsheften und Protokollen ausdrücken lässt, implizit hingegen, wenn es um Können und Fähigkeiten geht, die das dazu fähige Subjekt selbst nicht explizit beschreiben kann" (Kornwachs 2008: 138, vgl. Kornwachs 2012: 237 ff.).

Beide Theorien des Wissens, sowohl die von Keith Lehrer (1990) als auch die von Rainer Enskat (2005), bedürfen eines allgemeinem Wahrheitskriteriums oder mehrerer allgemeiner Wahrheitskriterien, weil Wahrheit als Eigenschaft wissenschaftlicher Diskurse gefordert wird. Damit wird aber auch ein methodologischer Reduktionismus vertreten, weil alles Wissen wahrheitsdefinit sein muss. Dies gilt auch für Popper, obwohl bei ihm Wahrheit nur eine regulative Idee ist oder genauer gesagt, das Ziel wissenschaftlicher Diskurse die Annäherung an die Wahrheit sei.

"Der Wahrheitsbegriff spielt also im Wesentlichen die Rolle einer regulativen Idee. Er hilft uns bei unserer Suche nach der Wahrheit, daß es so etwas wie Wahrheit oder Übereinstimmung gibt. Sie gibt uns aber keine Methode an die Hand, die Wahrheit zu finden oder uns dessen zu versichern, daß wir sie gefunden haben, auch wenn wir sie gefunden haben. Es gibt also kein Wahrheitskriterium, und wir dürfen nicht nach einem solchen fragen" (Popper 1984: 330, siehe auch 323-353).

Klaus Kornwachs (2012) formuliert allgemeine Kriterien, mit deren Hilfe er die Klassifizierung in unterschiedliche Wissensarten vornimmt. Weiterhin sind ebensolche Kriterien auch für propositionales Wissen notwendig. Allerdings vertritt er keinen methodologischen Reduktionismus, sondern einen methodologischen Pluralismus, weil ihm zufolge technische Regeln nicht wahrheitsdefinit sind, sondern effizient oder uneffizient (Kornwachs 2012: 172).


5.2.2 Ausgangspunkt: Kritik an einem allgemeinen Wahrheitskriterium oder an mehreren allgemeinen Wahrheitskriterien Seitenanfang

"Nun würde ein allgemeines Kriterium der Wahrheit dasjenige sein, welches von allen Erkenntnissen, ohne Unterschied ihrer Gegenstände, gültig wäre. Es ist aber klar, daß, da man bei demselben von allem Inhalt der Erkenntnis (Beziehung auf ihr Objekt) abstrahiert, und Wahrheit gerade diesen Inhalt angeht, es ganz unmöglich und ungereimt sei, nach einem Merkmale der Wahrheit dieses Inhalts der Erkenntnisse zu fragen, und daß also ein hinreichendes, und doch zugleich allgemeines Kennzeichen der Wahrheit unmöglich angegeben werden könne" (Kant 1956 [1781 und 1787]: 101 [A 58-A 59/B 83]).

"Hier wird nicht nur aufgezeigt, daß, sondern warum es sich bei der Frage nach dem Wahrheitskriterium um eine unsinnige handelt, nämlich, weil die Frage nach dem Wahrheitskriterium überhaupt auf die Nennung eines allgemeinen Kriteriums zielt, der Ausweis konkreter, spezieller wahrer Sätze aber stets ein spezifisches Kriterium verlangt" (Gloy 2004a: 43).

"Es gibt zwar kein Wahrheitskriterium, und wir können uns nicht einmal der Falschheit einer Theorie ganz sicher sein, aber immerhin können wir leichter feststellen, daß eine Theorie falsch ist, als daß sie wahr ist" (Popper 1984: 331).

Als Alternative zu einem Wahrheitskriterium bietet Popper ein Abgrenzungskriterium an, das das Abgrenzungs- oder Fundamentalproblem der Wissenschaft lösen soll.


5.2.3 Eigene Position: Allgemeine und spezielle Bedingungen auf zehn methodologischen Ebenen Seitenanfang

Die Untersuchungen von Enskat (2005), Lehrer (1990) und Kornwachs (2012), die modernen Wahrheitstheorien (vgl. Skirbekk 1977, Gloy 2004a) sowie generelle wissenschaftstheoretische Analysen (Carrier 2006, Poser 2012) liefern sehr gute wissenschaftstheoretische Grundlagen für den Wissensbegriff. Es handelt sich dabei um allgemeine Kriterien, die zwar Aufgaben, Kriterien und Eigenschaften des Wissens festlegen können, weil die wissenschaftstheoretischen Grundlagen die Aufgaben, Kriterien und Eigenschaften des generierten Wissens bestimmen (Kant 1956 [1781 und 1787]: 101 [A 58-A 59/B 83]).

Für die Identifizierung von konkreten und speziellen Sätzen (Aussagen, Normen, Regeln) sowohl für Einzelaussagen auf der einen Seite als auch für einzelne moralische oder technische Handlungsanweisungen sowie Gesetzesaussagen oder Normen und Regeln auf der anderen Seite bedarf es wissenschaftlicher Werkzeuge, da nur mit Hilfe von wissenschaftlichen Werkzeugen konkretes Wissen begründet, generiert und identifiziert werden kann. Dies gilt für alle Sätze, unabhängig davon, welche Prädikate (wahr/falsch, richtig/falsch, gerecht/ungerecht, klug/unklug, wünschenswert/unerwünscht oder effektiv/uneffektiv) diese Sätze haben. Weitere Kritikpunkte meinerseits an Lehrer (1990) und Enskat (2005) sowie generell an einer Wissenstheorie, die im Anschluss an Platon mit Bedingungen arbeitet, lauten:

  • Eine oder mehrere Wahrheitsbedingungen allein reichen nicht aus Wissen zu rechtfertigen. Zur Identifikation von konkretem Wissen bedarf es aller zehn methodologischer Ebenen, allgemeine (notwendige) und spezielle (hinreichende) Bedingungen befinden sich auf diesen Ebenen (vgl. 2. Schaubild).
  • Praktische (normative, pragmatische und technische Diskurse) werden schlicht aus dem Wissenschaftsdiskurs aufgrund einer reduktionistischen Methodologie ausgeschlossen, da praktische Diskurse nicht wahrheitsdefinit sind bzw. andere Eigenschaften (Prädikate) haben.

Wissen besteht aus empirischen und praktischen Theorien, aus wissenschaftstheoretischen Grundlagen sowie aus wissenschaftlichen Werkzeugen und hat einen hypothetischen Charakter. So kann eine Definition des Wissens lauten, die die Bedeutung wissenschaftlicher Werkzeuge sowie die zehn methodologischen Ebenen wissenschaftlicher Diskurse berücksichtigt (vgl. 2. Schaubild). Billiges, wohlfeiles und weltfremdes Moralisieren kann nur vermieden werden, wenn politisch-praktische Diskurse allen allgemeinen (notwendigen) und speziellen (hinreichenden) Bedingungen auf zehn methodologischen Ebenen genügen.


5.2.4 Ausgangspunkt: "Erkenntnistheorie ohne erkennendes Subjekt" (Popper 1984: 109-157). Seitenanfang

"Nach meiner ersten These gibt es zwei verschiedene Bedeutungen von Erkenntnis oder Denken: (1) Erkenntnis oder Denken im subjektiven Sinne: ein Geistes- oder Bewußtseinszustand oder eine Verhaltens- oder Reaktionsdisposition und (2) Erkenntnis oder Denken im objektiven Sinne: Probleme, Theorien und Argumente als solche. Erkenntnis in diesem objektiven Sinne ist völlig unabhängig von irgend jemandes Erkenntnisanspruch, ebenso von jeglichem Glauben oder jeglicher Disposition, zuzustimmen, zu behaupten oder zu handeln. Erkenntnis im objektiven Sinne ist Erkenntnis ohne einen Erkennenden: Es ist Erkenntnis ohne erkennendes Subjekt. Über das Denken im objektiven Sinne schrieb Frege: `Ich verstehe unter Gedanke nicht das subjektive Tun des Denkens, sondern dessen objektiven Inhalt´" (Popper 1984: 112. Das Frege-Zitat stammt aus "Über Sinn und Bedeutung", Frege 2008: 29, Anmerkung 5, vgl. Popper 2012: 7-23, Objektives und Subjektives Wissen).

Welt 1 ist nach Popper die Welt der physikalischen Dinge, Welt 2 die Welt des subjektiven Bewusstseins. "Zu den Bewohnern der ´Welt 3´ gehören, um mehr ins einzelne zu gehen, theoretische Systeme; aber ebenso wichtig sind Probleme und Problemsituationen. Und ich werde behaupten, daß die wichtigsten Bewohner der Welt kritische Argumente sind und das, was man - in Analogie zu einem physikalischen Zustand oder einem Bewußtseinszustand - den Stand einer Diskussion oder den Stand einer kritischen Auseinandersetzung nennen kann; und natürlich gehört auch der Inhalt von Zeitschriften, Büchern und Bibliotheken dazu" (Popper 1984: 110, vgl. Popper 2012).

Eine Erkenntnistheorie, die wie bei Lehrer (1990) und Enskat (2005) das erkennende Subjekt ins Zentrum stellt, nennt Popper eine subjektive Erkenntnistheorie und die Autoren "Philosophen des Glaubens [...], die sich wie  Descartes, Locke, Berkeley, Hume, Kant oder Russel für unsere subjektiven Überzeugungen und ihre Grundlagen oder ihren Ursprung interessieren" (Popper 1984: 110).

"Gewiß ist jedes theoretische Wissen zunächst einmal von wissenden oder sich um Wissen bemühenden Instanzen erarbeitet worden. Es bleibt jedoch nicht notwendig an solche Instanzen gebunden" (Wieland 1986: 33).

"Die Wissenschaft denkt nicht" (Heidegger 2002 [1952]: 4).


5.2.5 Eigene Position: Wissenstheorie versus Erkenntnistheorie Seitenanfang

Meiner Meinung nach kann man Wissen auch unabhängig von einer Person und damit so, wie dies auch getan wird, unabhängig von erkenntnistheoretischen Fragen innerhalb der Wissens- oder Wissenschaftstheorie erörtern. Auch Enskat (2005), der dies bestreitet, listet die Wahrheitsbedingung unabhängig von den anderen nicht-propositionalen Bedingungen auf. Wenn man das Wissen unabhängig von einem erkennenden Subjekt diskutiert, ist man nicht gezwungen, wie Popper (1984, Popper 2012) die Existenz einer Welt 3 anzunehmen. Der wissenschaftliche Diskurs ist genauso wichtig für das Projekt Wissenschaft wie die einzelnen Wissenschaftler.

Die Wissenstheorie behandelt allgemeine und spezielle Kriterien des Wissens auf zehn methodologischen Ebenen und beschäftigt sich vor allem mit dem Rechtfertigungszusammenhang (vgl. Reichenbach 1983 [1938]: 3). Bei der Erkenntnistheorie geht es erstens um den Entdeckungszusammenhang (vgl. Reichenbach 1983 [1938]: 3), zweitens um ein Können oder die personale Verankerung des Wissens sowie drittens um das erkennende Subjekt, den Wissenden.


5.3 Struktureller Unterschied zwischen Wissen und Können sowie zwischen Theorie und Praxis Seitenanfang

5.3.1 Ausgangspunkte: Unterscheidung zwischen Knowing that und Knowing how, Science und Engineering sowie propositionalem und nicht-propositionalem Wissen Seitenanfang

Gilbert Ryle (2009 [1949]) verfolgt folgendes Ziel: "This book offers what with reservations be described as a theory of mind. But it does not give new informations about minds. We possess already a wealth of information about minds, information which is neither derived from, nor upset by, the arguments of philosophers. The philosophical arguments which constitute this book are intended not to increase what we know about minds, but to rectify the logical geography of the knowledge which we already possess" (Ryle 2009 [1949]: IX, Kurt Baier übersetzt theory of mind mit "Theorie des Geistes oder der Seele" (Ryle 1969 [1949]: 3). Insbesondere will Gilbert Ryle das "Dogma(s) vom Gespenst in der Maschine" (Ryle 1969 [1949]: 75, "the dogma of the ghost in the machine" (Ryle 2009 [1949]: 47) widerlegen. Analog geht Wittgenstein in seinem Spätwerk vor (Wittgenstein 1984c [1951]). In meiner Magisterarbeit "Philosophische Probleme. Die Unterscheidung zwischen Sach- und Sprachproblemen in Wittgensteins Spätphilosophie" habe ich versucht dies herauszuarbeiten (Lauer 1987).

Das Ziel des zweiten Kapitels "Knowing How and Knowing That" (Ryle 2009 [1949]: 14-48) lautet: "The main object of this chapter is to show that there are many activities which directly qualities of mind, yet are neither themselves intellectual operations nor yet effects of intellectual operations. Intelligent practice is not a step-child of theory. On the contrary theorising is one practice amongst others and is itself intelligently or stupidly conducted" (Ryle 2009 [1949]: 15-16).

Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Knowing that und Knowing how werden wie folgt festgehalten:

"There are certain parallelism between knowing how and knowing that, as well as certain divergences. We speak of learning how to play an instrument as well as of learning that something is the case; of finding out how to prune trees as well as of finding out that the Romans had a camp in certain place; of forgetting how to tie a reef-knot as well as of forgetting that the German for ´knife´ is ´Messer´. We can wonder how as well as wonder whether. One the other hand we never speak of a person believing or opining how, and though it is proper to ask for the grounds or reasons for someone´s acceptance of a proposition, this question cannot be asked of someone´s skill at cards or prudence in investments" (Ryle 2009 [1949]: 17).

Praktisches Können wird bei Ryle als ein Teil des Know-hows gesehen: "To be intelligent is not merely to satisfy criteria, but to apply them; to regulate one´s actions and not merely to be well-regulated" [...] "an actions exhibits intelligence, if, and only if, the agent is thinking what he is doing while he is doing it, and thinking what he is doing in such a manner that he would not do the action so well if he were not thinking what he is doing" (Ryle 2009 [1949]: 17). Know-how ist für Gilbert Ryle 1969 [1949] praktisches Wissen plus praktisches Können, während Know-that theoretisches (empirisches) Wissen ist.

"Die Grammatik des Wortes ´wissen´ ist offenbar eng verwandt der Grammatik der Worte ´können´, ´imstande sein´. Aber auch eng verwandt der des Wortes ´verstehen´. (Eine Technik ´beherrschen´.)" (Wittgenstein 1984c [1951]: 315 [§ 150]).

Auf Gilbert Ryle (2009 [1949]) geht die Unterscheidung in der Technikphilosophie zwischen "Science" und "Engineering" zurück (vgl. unter anderem Poser 2001). Auch Klaus Kornwachs (2012: 278) zitiert die Begrifflichkeiten von Gilbert Ryle 2009 [1949] auf Englisch und knüpft ausdrücklich an  diese an. Er  unterscheidet zwischen propositionalem Wissen (propositional knowledge im Sinne von knowing that) bestehend  aus formalisierbarem Wissen (analytischen und empirischen Aussagen) sowie praktischem Wissen (practical knowledge im Sinne von knowing how) bestehend aus Regeln und Fertigkeiten.

Wolfgang Wieland (1986) und auch sein Schüler Rainer Enskat (2005) übernehmen die von Gilbert Ryle gemachte Unterscheidung zwischen Know-how und Know-that (Ryle, 2009 [1949]: 14-48, Chapter II Knowing How and Knowing That, deutsche Ausgabe Ryle 1969 [1949]: 26-77, zweites Kapitel: Können und Wissen).

"Ein guter Teil des spezifisch praktischen Wissens liegt nicht in gegenständlicher, sondern in dispositioneller Gestalt vor. Dazu gehören alle Fertigkeiten, über die ein Mensch verfügen kann; sie weisen nicht die für Aussagen charakteristische propositionale Grundstruktur auf. Dazu gehört alles das, was man heute mit dem Namen einer Kompetenz zu bezeichnen pflegt. Kompetenzen beziehen sich jedoch nicht auf Objekte, sondern auf Kontinuen von Handlungsmöglichkeiten; in ihnen und durch sie kann ihrem Inhaber ein Stück Wirklichkeit mitsamt seiner Normierung erschlossen sein. Es sind Gestalten des Wissens, wie man sie heute mit Hilfe eines rasch eingebürgerten Ausdrucks unter den Obertitel Know-how subsumiert und sie damit zugleich dem Formenkreis des Wissens vom Typus Know-that gegenüberstellt" (Wieland 1986: 33).

"Die Philosophie kann allerdings nicht als solche bestimmte Gestalten des nichtproportionalen Wissens realisieren, wenn sie sich der Herausforderung durch die moderne Wissenschaft stellen will. Sie muß sich im Medium der Behauptungen und Begründungen ausdrücken und bleibt aus diesem Grunde nicht anders als jede Wissenschaft den Gesetzen des propositionalen Wissens verpflichtet. Sie kann jedoch das Bewußtsein für die Tatsache sensibel machen, daß die durch die modernen Wissenschaften auf eine fast unvorstellbare Weise verfeinerten Methoden, die Wirklichkeit auf propositionale Weise zu erfassen, nur eine von mehreren Möglichkeiten des Zugangs zur Wirklichkeit repräsentieren. Sie kann zeigen, wie die für das nichtpropositionale Wissen spezifischen Valenzen immer nur durch bestimmte Erfahrungsformen auf originäre Weise gegeben werden können, nicht aber durch darauf bezogene Aussagen, und zwar auch dann nicht, wenn diese Aussagen richtig und einer Begründung fähig sind. Sie kann schließlich zeigen, in welcher Weise die propositional ausgeformten Erkenntnisse der Wissenschaften selbst erst unter der Voraussetzung von Gestalten nichtpropositionalen Wissens möglich sind"  (Wieland 1986: 11-12).

"Mitteilen läßt sich nur objektiviertes Wissen, das sich in Gestalt von Aussagen verbalisieren läßt. Dieses Wissen steht aber immer vor einem Hintergrund, der durch die mannigfachen Formen des unausdrücklichen, nichtverbalen Wissens gebildet wird. Dieses nichtobjektivierte Wissen hat normalerweise die Gestalt personengebundener Dispositionen. Fachspezifische Erfahrung oder die Fähigkeit zur adäquaten Einschätzung von Situationen bieten Beispiele für solche Dispositionen, wie sie immer nur in eigener Person erworben, nicht aber verbal objektiviert und mitgeteilt werden können" (Wieland 1986: 83).


5.3.2 Eigene Position: Wissen versus Können Seitenanfang

Die von Gilbert Ryle 2009 ([1949) gemachte Unterscheidung von "Knowing that" und "Knowing how" wird nicht übernommen, da der Unterschied zwischen Wissenschaft, insbesondere Technikwissenschaft und Technik nicht berücksichtigt wird, d.h. praktisches Wissen und praktisches Können werden gleichgesetzt. Dies basiert aber lediglich auf zweideutigen Aussagen im Englischen, wie Kurt Baier, der Übersetzer von Gilbert Ryle, zu Recht hervorhebt.

Die Benutzung der englischen Wörter "Knowing how" und "Knowing that" führt nicht zu genaueren Erläuterungen, sondern zu sprachlichen Verwirrungen. Die genaue deutsche Übersetzung zeigt, dass diese Begriffe extrem ungenau sind und keineswegs zu einer Klärung der logischen Geographie des Wissens führen.

"Für das im englischen Titel dieses Kapitel verwendete Ausdruckspaar `Knowing how - knowing that` konnte der Übersetzer kein gleichbedeutendes deutsches Gegenstück finden. Ryle will hier sagen ´being able to do something´ bedeute dasselbe wie ´knowing how to do it´. Im Deutschen kann man das aber durch keinen der beiden dem englischen ´knowing how` ähnlichen Ausdrücke wiedergeben. Der erste dieser Ausdrücke, ´Wissen, wie man etwas macht`, heißt nicht dasselbe wie ´etwas machen können´. Denn es kann einer wohl wissen, wie man einen Autoreifen wechselt (so daß er es einem anderen sogar beschreiben oder zeigen kann), ohne es jedoch selber zu können, vielleicht weil er nicht stark oder geschickt genug ist oder weil er schlechte Augen hat. Wissen wie ... ist eine Form des theoretischen Wissens, also nicht dasselbe wie das englische ´Knowing how to do ...´. Der zweite ähnliche deutsche Ausdruck ´Er weiß zu ...´ ist auch unpassend, weil er nicht allgemein an Stelle von ´können` anwendbar ist. Man kann zwar unter Umständen von jemandem sagen: ´Er weiß zu schmeicheln´, aber man wird kaum die Frage, ob einer chauffieren kann, mit den Worten: `Weiß er zu chauffieren?` stellen wollen. Der Übersetzer mußte sich daher damit begnügen, das englische Paar ´Knowing how - knowing that´ mit dem deutschen Paar ´Können - Wissen` wiederzugeben, das nicht wie das englische Paar sprachliche Bestätigung für Ryles These liefert, das Können sei eine Art des praktischen Wissens" (Anmerkung von Kurt Baier, des Übersetzers, in Ryle 1969 [1949]: 26).

Analog wird hier zwischen Wissen und Können unterschieden:

Wissen: Knowing that als theoretisches (analytisches und empirisches) Wissen betrachtet, ein Wissen, dass etwas der Fall ist bestehend aus Aussagen, auch Aussagen über Normen und Regeln. Hingegen praktisches Wissen, ein Wissen, wie man etwas macht, bestehend aus Normen und Regeln. Es handelt sich um explizites, propositionales Wissen. Auch praktisches Wissen zähle ich zum propositionalen Wissen, weil Normen und Regeln auch Sätze sind genau wie Aussagen.

Können: Das Können besteht aus Dispositionen, Kompetenzen, Fertigkeiten, wie man etwas macht. Hier handelt es sich um den Bereich, der unter dem Label implizites, nicht-propositionales Wissen behandelt wird. Es handelt sich nur um einen Teilbereich des Know hows, dem des praktischen Könnens.

Kurt Baier liefert ein gelungenes Beispiel, wie man mit sprachlicher Analyse philosophische Probleme lösen kann, d.h. auf sprachliche Verwirrungen zurückführen kann (vgl. Wittgenstein 1984c [1951], Lauer 1987).

In dieser Untersuchung geht es vor allem um die Unterscheidung zwischen empirischen und praktischen Wissen und dessen Verhältnis (Komplementarität) zueinander und damit um explizites Wissen, das als Antworten-Können definiert werden kann oder Wissen im engeren Sinn (vgl. Schneider 2012: 75 ff.).

Damit soll aber nicht bestritten werden, dass es ein nichtpropositionales Wissen (meiner Meinung nach handelt es sich um ein Können) gibt bzw. einen Bereich, der nicht expliziert werden kann. Dieses wird seit der Antike thematisiert. Wolfgang Wieland hat in seiner Platon Interpretation vor allem großen Wert auf das nichtpropositionale Wissen gelegt. "Man kann von demjenigen, der über nichtpropositionales Wissen verfügt, gewiß nicht erwarten, daß er dieses Wissen in Gestalt von Sätzen präsentiert, wohl aber, daß er mit Hilfe von Sätzen von ihm Rechenschaft geben kann. Sokrates weiß jedenfalls, daß er das Wissen, durch das er sich auszeichnet, nicht in Gestalt von Sätzen mitteilen kann. Doch er beruft sich auf dieses Wissen nicht wie auf ein Orakel. Er bewährt es darin, daß er im Umgang mit Sätzen niemals die Orientierung verliert. Auch verliert er niemals den Kontakt zum Bereich der Sätze. Doch er behält ihnen gegenüber immer die Distanz, die ihn davor bewahrt, diesem Bereich zu verfallen. Man wird Platons Philosophieren schwerlich gerecht, wenn man die Spannung übersieht, die zwischen den im geschriebenen Werk überlieferten Sätzen und dem besteht, was nur mit Hilfe dieser Sätze ausgedrückt und gezeigt wird, ohne daß es hingegen von ihnen als semantisches Korrelat auf thematische Weise intendiert würde. Jede Rede von einer platonischen Lehre bleibt unklar und zweideutig, wenn sie diese Zusammenhänge nicht beachtet " (Wieland 1999 [1982]: 324).

In den hier untersuchten praktischen Diskursen geht es vor allem um explizites, praktisches Wissen insbesondere über Können und Könnerschaft, das in propositionaler Form vorliegt. Bei Propositionen innerhalb praktischer Diskurse kann es sich erstens um empirisches (deskriptives, explanatives oder prognostisches) Wissen handeln in Form von Aussagen über Sachverhalte oder Aussagen über Normen, Werte, Normierungen oder Regulierungen. Zweitens über praktisches (normatives, pragmatisches oder technisches) Wissen in Form von Normen und Regeln. Normen und Regeln sind auch Sätze (Propositionen), die sich aber nicht auf Aussagen reduzieren lassen (vgl. 4. Kapitel).

Daher kann man die Diskussion über nichtporpositionales Wissen, die seit dem  20. Jahrhundert vor allem unter dem Begriff des  implizites Wissen (tacit knowledge) diskutiert wird, hier auf sich beruhen lassen (vgl. Polanyi 1958, Polanyi 1985 [1967], Mannheim 1980, Loenhoff 2012, Schützeichel 2012). Zumal der Ausdruck und das Konzept "implizites Wissen" eventuell durch "traditionell etablierte Ausdrücke und Konzepte besser erbracht" (Kogge 2012: 31) werden kann und zwar von Erfahrung (Empeiría). "Ein Wissen lässt sich weitergeben, eine Erfahrung muss man >am eigenen Leibe< gemacht haben (Schneider 2012: 77). Damit lässt sich meiner Meinung nach auch eine gute Trennlinie zwischen Wissenstheorie, die explizites Wissen thematisiert, und Erkenntnistheorie (Epistemologie, Gnoseologie), die die Voraussetzungen von Erkenntnis, dem Zustandekommen von Wissen sowie die Entstehung von Erfahrung erörtert, begründen. Bei ersteren geht es vor allem um den Rechtfertigungszusammenhang (context of justification) von Wissen, bei letzteren um den Entstehungszusammenhang (context of discovery) (vgl. Reichenbach 1983 [1938]: 3). Auch eine Unterscheidung oder Verhältnis zwischen Erfahrung und Können kann hier nicht nachgegangen werden.

Die ersten fünf Bedingungen bei Rainer Enskat (2005: 124) betreffen das Subjekt der Erkenntnis, meiner Meinung nach das Können in der Regel von Wissenschaftlern, während die letzte Bedingung die Frage nach einem Wahrheitskriterium aufwirft.

Der Unterschied liegt meiner Auffassung nach darin, dass bei den ersten fünf Bedingungen die personale Verankerung von Wissen, also die Bedingungen für ein Können erörtert werden, während die Wahrheitsbedingung unabhängig von einem erkennenden Subjekt diskutiert werden kann. Rainer Enskat liefert also eine Analyse des Könnens und nicht des Wissens, zumal auf Wahrheitsbedingungen nicht näher eingegangen wird, sondern die Authentizität des Wissens im Vordergrund der Untersuchung steht.

Wissen ist auch keine Art oder kein Bestandteil des Könnens, wie es in den Analysen insbesondere von Enskat (2005) abgehandelt wird. Wissen kann daher auch nicht mit einem Können begründet, sondern muss unabhängig von einem Können gerechtfertigt werden.

Aufgrund der strukturellen Unterschiede zwischen verschiedenen Werkzeugtypen (4. Schaubild) ergeben sich folgende Wissensformen sowie Unterscheidungen zwischen Wissen versus Können, Theorie versus Praxis (vgl. 5. Schaubild):

  • Analytisches Wissen: Begriffliche und logische Wahrheiten in Form von nichtempirischen, wahrheitsfähigen Sätzen, genauer Aussagen.
  • Empirisches Wissen in Form von natur- oder sozialwissenschaftlichen Aussagen oder Aussagensysteme, auch Aussagen über Normen und Regeln. Es gibt drei Kategorien von empirischen Wissen:
    • Deskriptives Wissen in Form von natur- oder sozialwissenschaftlichen wahrheitsdefiniten Beschreibungen.
    • Explanatives Wissen in Form von natur- oder sozialwissenschaftlichen wahrheitsdefiniten Erklärungen.
    • Prognostisches Wissen in Form von natur- oder sozialwissenschaftlichen wahrheitsdefiniten Voraussagen.

Wissenschaftstyp: Empirische (theoretische) Wissenschaften. Beispiele: Naturwissenschaften, empirische Sozialwissenschaften. Beim analytischen und empirischen Wissen handelt es sich auch um propositionales Wissen, weil beide in Aussageform formuliert werden.

Akteure: Wissenschaftler z.B. Politikwissenschaftler generieren empirisches und/oder praktisches Wissen. Naturwissenschaftler generieren empirisches Wissen, Technikwissenschaften praktisches Wissen (zu den Eigenschaften des Wissens siehe Eigenschaften (Prädikate) wissenschaftlicher Diskurse).

  • Praktisches Wissen. Es gibt drei Kategorien von praktischen Wissen:
    • Normatives Wissen in Form von Handlungsmaximen und normativen Urteilen, die richtig oder falsch sind, bestehend z.B. aus der ärztlichen Ethik.
    • Pragmatisches Wissen in Form von Handlungsstrategien und pragmatischen Urteilen bestehend z.B. aus verschiedenen methodischen Ansätzen ein und dieselbe Krankheit zu heilen. Pragmatische Regeln sind klug/unklug oder wünschenswert/unerwünscht.
    • Technisches Wissen in Form von Handlungsinstrumenten und technischen Urteilen bestehend z.B. aus Methoden, die konkrete technische Regeln enthalten, eine Krankheit zu heilen. Technische Regeln sind effektiv oder uneffektiv.

Wissenschaftstyp: Praktische (normative, pragmatische und technische) Wissenschaften. Beispiele: Medizinwissenschaften, Technikwissenschaften, praktische Sozialwissenschaften.

Praktisches Wissen ist nicht nur ein "Wissen, wie man etwas macht" (Kurt Baier in: Ryle 1969 [1949]: 26), sondern besteht aus drei verschiedenen Komponenten:

Können enthält die praktische Kompetenz empirisches und praktisches Wissen umzusetzen, "etwas machen können" (Kurt Baier in: Ryle 1969 [1949]: 26), die Kunst des Arztes, Handwerkers, Ingenieurs, Lehrers, Managers, Politikers, Wissenschaftlers auf seinem Gebiet hervorragende Leistungen zu erbringen.

Die personale Verankerung des Wissens kann anhand der ersten fünf von Rainer Enskat (2005: 124, vgl. authentisches Wissen) formulierten Bedingungen für authentisches Wissen verifiziert oder schlicht und einfach festgestellt werden, ob jemand in der Praxis erfolgreich ist.

Folgende Akteure verfügen über ein Können und damit über praktische Kompetenz: Bürger, Politiker, Beamte, Verwalter, Unternehmer. Sie alle sind Praktiker und können auch politische Entscheidungen bewirken.

Am Beispiel von Studieninhalten soll die oben eingeführte Begrifflichkeit erläutert werden. Ein Student, will er eine wissenschaftsbasierte Ausbildung etwa zum Juristen, Ingenieur, Kaufmann (Manager), Lehrer, Mediziner, Wissenschaftler etc. absolvieren, muss im Studium Folgendes lernen: Er muss analytisches und empirisches Wissen in Form von Aussagen und Aussagensystemen über den jeweiligen Gegenstand lernen sowie praktisches Wissen in Form von Normierungen und Regulierungen. Das Können kann er nur in Praktika erwerben, in denen er das gelernte Wissen umsetzt.


5.3.3 Eigene Position: Theorie versus Praxis Seitenanfang

A. Wissen, Theorie oder theoretisches Können: Erkenntnis- und Wissenssphäre bzw. gnoseologische Sphäre

Ein Wissenschaftler ist immer ein Theoretiker egal, ob er mit einer empirischen Methodologie empirische Aussagen über die politische Realität trifft oder ob er mit einer praktischen Methodologie auch Normierungen bzw. Regulierungen begründet. Im ersten Fall generiert er empirisches Wissen, im zweiten praktisches Wissen.

Es gibt keine angewandte Wissenschaften, sondern nur praktische Wissenschaften sowie wissenschaftlich ausgebildete Praktiker, die Wissen anwenden, und Wissenschaftler, die Wissen generieren.

B. Praxis: Sphäre des Handelns

Ein Praktiker (Bürger, Politiker, Beamter, Verwalter, Unternehmer) verändert die (politische) Realität, sei es nun, dass er auf wissenschaftlich begründetes empirisches und praktisches Wissen rekurriert und rationale Entscheidungen fällt oder subjektive Bauchentscheidungen trifft.

Theorie und Praxis werden komplementär und nicht hierarchisch gedacht. Auch eine Äquivalenz zwischen beiden, wie im Bacon-Programm üblich, wird abgelehnt (vgl. 5. Schaubild).


5.4 Struktureller Unterschied zwischen verschiedenen Wissenschaftstypen Seitenanfang

5.4.1 Empirische (deskriptive, explanatorische und prognostische) Wissenschaften Seitenanfang

A. Ausgangspunkt: Unterscheidung zwischen logischen, empirischen und praktischen Fragestellungen

Max Weber fordert von Wissenschaftlern eine klare Trennung zwischen dem, "was von seinen jeweiligen Ausführungen entweder rein logisch erschlossen oder rein empirische Tatsachenfeststellung und was praktische Wertung ist. Dies zu tun allerdings scheint mir direkt ein Gebot der intellektuellen Rechtschaffenheit, wenn man einmal die Fremdheit der Sphären zugibt; in diesem Falle ist es das absolute Minimum des zu Fordernden" (Weber 1973e [1917]: 490-491 [452-453]).

"Das sind Probleme der Wertphilosophie, nicht der Methodik der empirischen Disziplinen. Worauf allein es ankommt, ist: daß einerseits die Geltung eines praktischen Imperativs als Norm und andrerseits die Wahrheitsgeltung einer empirischen Tatsachenfeststellung in absolut heterogenen Ebenen der Problematik liegen und daß der spezifischen Dignität jeder von beiden Abbruch getan wird, wenn man dies verkennt und beide Sphären zusammenzuzwingen sucht" (Weber 1973e [1917]: 501 [463]).

B. Eigene Position: Unterscheidung zwischen analytischen, empirischen und praktischen Fragesellungen

Die Unterscheidung zwischen analytischen, empirischen und praktischen Fragesellungen wird übernommen, insbesondere die wissenschaftstheoretischen Argumente für den methodologischen Pluralismus rechtfertigen dies, von denen die meisten erst nach Webers Arbeit vorgebracht wurden (vgl. 4.3 Methodologischer Pluralismus und  3. Schaubild).

C. Ausgangspunkt: Reduzierung praktischer auf technisch-instrumentelle Fragen

"Nur wo bei einem absolut eindeutig gegebenen Zweck nach dem dafür geeigneten Mittel gefragt wird, handelt es sich um eine wirklich empirisch entscheidbare Frage" (Weber 1973e [1917]: 517 [479]).

Max Weber rechtfertigt die Reduzierung praktischer auf technisch-instrumentelle Fragen mit Hilfe von Umkehrungen von Kausalsätzen (Weber 1973a [1917]: 529), während Karl Raimund Popper von "Umkehrung des fundamentalen Erklärungsschemas" (Popper 1984: 367) spricht. An anderer Stelle formuliert Popper die Reduzierung praktischer Fragen auf technische sowie deren Reduzierung auf theoretisch-empirische Fragen wie folgt: "Die Aufgabe der Wissenschaft ist teils theoretisch - Erklärung - und teils praktisch - Voraussage und technische Anwendung. Ich werde zu zeigen versuchen, daß diese beiden Aufgaben im Grunde zwei Seiten ein und derselben Sache darstellen" (Popper 1984: 362, vgl. Details im 4. Kapitel: B. Theoretische und angewandte Wissenschaften).

Nicht nur in Sozialwissenschaften, sondern auch in den modernen Geistes- und Kulturwissenschaften werden normative Fragestellungen in der Regel ausgeklammert: "Denn auch die Geisteswissenschaften haben, so, wie sie heute betrieben werden, keine Möglichkeit, Fragen nach der Legitimität von Normen sachgerecht zu erörtern. Die Ausklammerung derartiger Fragen gehört im Übrigen zu den Merkmalen, durch die sich die modernen Geisteswissenschaften von einigen ihrer historischen Vorläufer unterscheiden. Geisteswissenschaften im heutigen Sinne konnten erst entstehen, als man auch für den Bereich der Geschichte und für die Lebenswelt des Menschen einen Freiraum akzeptierte, innerhalb dessen man bereit war, die Frage, was zu tun sei und wie zu leben sei, zu suspendieren" (Wieland 1986: 27-28).

D. Eigene Position: Innerhalb empirischer Diskurse können keine genuin praktischen Fragestellungen behandelt werden

Nicht einmal technische Fragestellungen können innerhalb von empirischen Wissenschaften bearbeitet werden. Ein genuin praktischer Diskurs bedarf einer pluralistischen Methodologie. Die These, dass technisch-instrumentelle Fragestellungen nur innerhalb von empirischen Wissenschaften behandelt werden können, wird widerlegt.

"Vor allem Kant kommt der Verdienst zu, nachgewiesen zu haben, daß kein Versuch, die Geltung sittlicher Normen auf teleologischer Basis zu legitimieren, dem Anspruch gerecht werden kann, den die praktische Vernunft an jeden Handelnden richtet. Denn die Geltung der Normen wird auf Faktisches zurückgeführt, wenn es ein vorgegebener Zweckzusammenhang ist, der sie legitimieren soll" (Wieland 1989: 29).

Die Umkehrung von Kausalsätzen ist logisch und argumentativ nur dann zu halten, wenn eine Äquivalenz zwischen Kausalität und Handlung nachgewiesen werden kann. So kann eine theoretische Sozialwissenschaft hypothetische Aussagen über die politische Realität treffen. Sofern es sich um kausale Aussagen handelt, können diese im Rahmen einer Stückwerk-Sozialtechnik (social piecemeal engineering) in wissenschaftlich begründete Reformvorschläge umgewandelt werden (Popper 2003 [1957], Popper 1980 [1944]). Allerdings sind dies keine logisch korrekten Schlussfolgerungen, sondern eine Vorgehensweise mittels des pragmatischen Syllogismus.

"Wissenschaftliche Beratung kann die Entscheidungssicherheit der Politik reduzieren, wenn sie es erlaubt, ein bestimmtes Kausalschema herauszustellen, das für das Erreichen einer bestimmten Wirkung geeignet zu sein scheint. Allerdings ist bei vielen politischen Problemen kein Konsens unterschiedlicher Quellen wissenschaftlicher Beratung vorhanden“ (Kusche 2008: 134).

Klaus Kornwachs weist auch auf weitergehende Differenzen zwischen empirischen Naturwissenschaften und Technikwissenschaften hin: "Die naturwissenschaftlichen Disziplinen stellen analytische Verfahren zur Reduzierung von Komplexität dar, indem sie die Beschreibung komprimieren. So sind die Grundgesetze der Physik beispielsweise extrem komprimierte Beschreibungen für eine ungeheure Vielzahl von Phänomenen" (Kornwachs 2013: 92). Während Naturwissenschaften die Reduktion von Komplexität betreiben (vgl. Experiment), entwickeln nach Kornwachs (2013: 92) Technikwissenschaften Verfahren zur Erzeugung von Komplexität (vgl. Test).

"Die Technikwissenschaften entwickeln systematische Verfahren zur Erzeugung von Komplexität, indem sie synthetisch vorgehen und gleichzeitig versuchen, auch diese Komplexität wiederum durch das Herausarbeiten allgemeiner Gesetzlichkeiten von technischen Systemen zu reduzieren" (Kornwachs 2013: 92).

"Nun gibt es durchaus erfolgreiche technische Handlungen, deren wissenschaftliche oder theoretische Begründung wir nicht kennen. Dies ist nicht nur im Alltag so, sondern auch in hoch entwickelten Technikbereichen: Jedes heuristische Verfahren verzichtet in gewisser Weise auf die rationale kausale Erklärung, da sich die Regeldurchführung oft genug als erfolgreich erwiesen hat: Die Praxis hat hier validierende Potenz, auch wenn sie noch keine Begründung eines naturgesetzlichen Zusammenhangs zu liefern vermag" (Kornwachs 2013: 95).

E. Aufgaben und Ziele empirischer Wissenschaften

Die Aufgabe empirischer Wissenschaften besteht darin, Beschreibungen, Sachverhalte, gesetzesartige Verallgemeinerungen, Wahrscheinlichkeitsaussagen, Erklärungen und Prognosen zu konstatieren. Erkenntnis steht im Vordergrund (vgl. 6. Schaubild). 

F. Gegenstandsbereich empirischer Wissenschaften

Der Gegenstandsbereich empirischer Wissenschaften ist inhaltlich nicht beschränkt. Natur- und Geisteswissenschaften gehören zu den empirischen Wissenschaften, d.h., sie können mit einer empirischen Methodologie bearbeitet werden. Hier geht es nur um Faktenfragen, nicht um Geltungsfragen.

Das Praktische und das Empirische sowie Theorie (empirisches und praktisches Wissen) und Praxis (Können) bilden einander ausschließende Gegensätze und nicht das Theoretische und das Empirische. Geistes- und Naturwissenschaften verbindet die Orientierung an der Erfahrung (vgl. 5. Schaubild).

Ähnlich sieht es Max Weber: "Wenn das normativ Gültige Objekt empirischer Untersuchung wird, so verliert es, als Objekt, den Norm-Charakter: es wird als ´seiend´, nicht als ´gültig´ behandelt" (Weber 1973e [1917]: 531 [493], vgl. Aussagen über Normen: 4. Kapitel, C. Deontische Logik).

"Theoretische Wissenschaften zielen darauf, Sachverhalte zu konstatieren. Sie wollen erkennen, was in der wirklichen Welt, aber auch in der Welt der idealen Strukturen der Fall ist und sie bemühen sich darum, das Ergebnis ihrer Erkenntnisbemühung in der Gestalt von nachprüfbaren und begründungsfähigen Aussagen darzustellen. Es kommt dabei nicht darauf an, ob die Resultate der jeweiligen Erkenntnisbemühung in individuelle Sachverhalte repräsentierenden Singuläraussagen oder aber in gesetzesartige Zusammenhänge ausdrückenden generellen Aussagen die ihnen angemessene Darstellung finden. Der Gegenstandsbereich der theoretischen Wissenschaften ist auch inhaltlich nicht beschränkt. Das ist vor allem im Hinblick auf die Welt des menschlichen Handelns bedeutsam. In ihrer Faktizität gehört auch sie mit allen sie bestimmenden Gesetzmäßigkeiten zu den möglichen Gegenständen der theoretischen Disziplinen. Für ihren Charakter als theoretische Wissenschaften ist es im Übrigen auch nicht von Bedeutung, ob sie ihre Ergebnisse mit empirischen oder mit nichtempirischen Methoden erzielen. Entgegen einem gelegentlich in Unordnung geratenen Sprachgebrauch bilden das Theoretische und das Empirische keine einander ausschließenden Gegensätze. Denn dem Theoretischen ist nun einmal nicht das Empirische, sondern das Praktische entgegengesetzt" (Wieland 1986: 29-30).

"Sowohl Naturwissenschaften als auch Geisteswissenschaften gehören nur einem Formenkreis der wissenschaftlichen Disziplinen, nämlich dem der theoretischen Wissenschaften an. Ihm steht, prinzipiell gleichberechtigt, der Formenkreis der praktischen Wissenschaften gegenüber" (Wieland 1986: 28).

Mathematik und Philosophie zählt Wieland (1986: 27) zu den nicht-empirischen oder analytischen Wissenschaften.

G. Wissensform

Empirische Wissenschaften generieren empirisches (deskriptives, explanatives und prognostisches) Wissen.

H. Grenzen empirischer Wissenschaften oder Grenzen empirischer Werkzeuge (Begriffe, Sätze, Theorien, Logiken, Argumentationsweisen, Methoden und methodische Ansätze) siehe 3.2.1 Aufgaben und Grenzen wissenschaftlicher Diskurse.

I. Kriterien empirischer Wissenschaften siehe 3.2.2 Kriterien wissenschaftlicher Diskurse. Rationalitätspostulate: Methodologische (argumentative, logische, methodische und sprachliche) Präzision.

J. Eigenschaften empirischer Wissenschaften

In der Regel wahrheitsdefinite (entweder wahre oder falsche) Aussagen oder Aussagensysteme.

K. Begriffsebene empirischer Wissenschaften

Empirische Theorien verwenden sowohl quantitative bzw. metrische als auch qualitative bzw. klassifikatorische Begriffe.

L. Satzebene empirischer Wissenschaften

Empirische Theorien enthalten auf der Satzebene deskriptive, explanative und prognostische Aussagen.

"In einem Behauptungssatz ist also zweierlei zu unterscheiden: der Inhalt, den er mit der entsprechenden Satzfrage gemein hat, und die Behauptung. Jener ist der Gedanke oder enthält wenigstens den Gedanken. Es ist also möglich, einen Gedanken auszudrücken, ohne ihn als wahr hinzustellen. In einem Behauptungssatze ist beides so verbunden, dass man die Zerlegbarkeit leicht übersieht. Wir unterscheiden demnach
1. das Fassen des Gedankens - das Denken,
2. die Anerkennung der Wahrheit eines Gedankens - das Urteilen,
3. die Kundgebung dieses Urteils - das Behaupten" (Frege 1993 [1918–1923]: 35).

M. Theorieebene empirischer Wissenschaften

Empirische Theorien bestehen aus Aussagensystemen, auch Aussagen über Normen und Regeln.

N. Logikebene empirischer Wissenschaften

Bei der Logikebene handelt es sich um formale Schlüsse bezogen auf empirische Begriffe und Sätze, in diesem Fall auf Aussagen. Mit Hilfe folgender Logiken werden empirische Aussagensysteme analysiert:

Wahrheitsdefinite Aussagen- und Prädikatenlogik sowie Modallogiken (zur Logik allgemein vgl. Quine 1981 [1964], von Kutschera/Breitkopf 2007, Stuhlmann-Laeisz 2002), Detel 2007, Stegmüller/von Kibed 1984).

Alethische Modallogik:
Es ist notwendig/unmöglich/möglich/kontingent, dass [...] (Hughes/Cresswell 1978 [1968]).

Zeitlogik:
Es wird immer/war immer/wird einmal/war einmal der Fall (sein), dass [...] (Prior 1968).

Epistemische (doxastische) Logik:
Es wird geglaubt/unmöglich gehalten/denkbar, dass [...] (Hintikka 1969 [1962] , Lenzen 1980).

Deontische Logik (Sein-Sollen):
Es ist geboten/verboten/erlaubt/indifferent, dass [...] (von Wright 1977a [1951]).

O. Argumentationsebene empirischer Wissenschaften

Es gibt eine große Vielfalt von Argumentationsweisen innerhalb empirischer Wissenschaften bzw. die logische Struktur empirischer Theorien ist sehr komplex:

a. Empirische und praktische Argumentationsweisen

  1. Argumentationsmodell  von Toulmin (Toulmin Model of Argument)
  2. Argument Maps

b. Empirische Argumentationsweisen

  1. Deduktive, analytische, schlussregel-gebrauchende, schlüssige, formal gültige Argumentationsweisen;
    Beispiele:
    Deduktiv-nomologisches Modell (HO-Schema), evolutionäres Erklärungsmodell.
  2. Induktive, substantielle, schlussregel-begründende, tentative, formal nicht gültige Argumentationsweisen;
    Beispiele:
    Hegelsche Dialektik, hermeneutische Zirkel als Spiralbewegung des Verstehens, Argumentationsmodell  von Toulmin, Argument maps.

Diese Einteilung hat Toulmin (1996 [1958]) vorgenommen. Ich habe Toulmins Einteilung auf die oben aufgeführten Beispiele übertragen. Es handelt sich einmal um absteigende, deduktive Argumentationsweisen von Ideen, allgemeinen Begriffen, allgemeinen Gesetzen, Modellen oder Theorien zu einzelnen Sachverhalten oder Urteilen und zweitens umgekehrt um aufsteigende, epagogische, induktive Argumentationsweisen vom Einzelnen zum Allgemeinen.

Seit der empirischen Wende der Wissenschaftstheorie (Kuhn (1976 [1962]) sind induktive Verfahren wieder verstärkt im Fokus der Analyse. Die Arbeit von Toulmin (1996 [1958]) hat hier kaum gewirkt, obwohl  er vier Jahre vor Kuhn (1976 [1962]) feststellt: "Die Logik muß aber nicht nur stärker empirisch werden; sie wird sich auch stärker historisch ausrichten müssen. Neue und bessere Methoden des Argumentierens für irgendeinen Bereich auszudenken bedeutet, nicht nur in der Logik einen großen Schritt vorwärts zu machen, sondern auch in dem betreffenden Bereich selbst“ (Toulmin 1996 [1958]: 223).

I. Deduktive, analytische, schlussregel-gebrauchende, schlüssige, formal gültige Argumentationsweisen

Die am meisten verbreitete und von allen Wissenschaftlern anerkannte Argumentationsweise ist das deduktiv-nomologische Erklärungsmodell (DN-Erklärungsmodell), nach den Erfindern auch HO-Schema (Hempel-Oppenheim vgl. Hempel/Oppenheim 1948, Hempel 1972 [1966], aber auch Popper 2005 [1934]) oder im Englischen Covering-Law-Model genannt. Dieses Modell beansprucht universelle Gültigkeit für jeden Typ von Erklärung (nicht nur Kausalerklärung). Die Erklärung einer bestimmten Tatsache besteht hiernach in der logischen Ableitung aus anderen Tatsachen und übergeordneten Gesetzen, daher ist dies eine Subsumptionstheorie.

Nach Georg Henrik von Wright (1974 [1971]: 23ff.) gibt es zwei Basismodelle des DN-Modells:

1) Deduktiv-nomologische Erklärungen, Subsumptions-Theorie der Erklärung

  • (i) Antecedens, singuläre Bedingungen (conditio) C1, C2 [...] Ck
  • (ii) Explanans (das Erklärende), allgemeine Gesetze (lex) L1, L2 [...] Lk
    ______________________________________
     
  • (iii) Explanandum, das zu erklärende Ereignis E.

2) Induktiv-probalistische Modelle. Probabilistische Erklärungen haben dieselbe logische Struktur. Sie unterscheiden sich von deduktiv-nomologischen Erklärungen unter anderem dadurch, dass (i) einige oder alle Gesetze von probalistisch-statistischer Form sind. (ii) Die Wahrheit des Explanans macht die Wahrheit des Explanandum nicht sicher, sondern nur mehr oder weniger wahrscheinlich macht.

Die deduktiv-nomologische Erklärung "beantwortet die Frage, 'Warum trat das Explanandum-Ereignis ein?', indem sie zeigt, dass sich das Ereignis aus den besonderen in C1, C2´[...] Ck spezifizierten Umständen in Übereinstimmung mit den Gesetzen L1,L2 [...] Lk ergab" (Hempel 1972 [1966]: 239, vgl. Hempel/Oppenheim 1948 und Popper 2005 [1934]).

Die allgemeinen Gesetze verbinden das Explanandum-Ereignis mit den im Explanans aufgeführten Bedingungen, daher erhalten allgemeine Gesetze den Status erklärender Faktoren hinsichtlich des zu erklärenden Phänomens. Von dem Explanans zum Explanandum gibt es eine deduktive Gewissheit oder induktive Wahrscheinlichkeiten. Bei der Erklärung ist das Explanandum zuerst bekannt, bei der Voraussage das Explanans.

"Die kausale Sicht dagegen findet ihren adäquaten Ausdruck im Laplaceschen Dämon. In dieser Sicht - und gerade das zeigte die Diskussion der DN-Erklärung des HO-Schemas - ist das Schema der Prognose dasselbe wie das einer Retrodiktion. Damit sind Vergangenheit und Zukunft einander im Grundsatz ähnlich, denn beide werden von der Gegenwart her gleichermaßen erhellt, und die Zukunft bringt nicht grundsätzlich Neues, weil die Gesetzmäßigkeiten jetzt schon festliegen“ (Poser 2012: 283).

Dieser kausale Reduktionismus wurde zuerst am Beispiel der Physik von Pierre-Simon Laplace (1749-1827) formuliert: „Wir müssen also den gegenwärtigen Zustand des Universums als Folge eines früheren Zustandes ansehen und als Ursache des Zustandes, der danach kommt. Eine Intelligenz, die in einem gegebenen Augenblick alle Kräfte kennt, mit denen die Welt begabt ist, und die gegenwärtige Lage der Gebilde, die sie zusammensetzen, und die überdies umfassend genug wäre, diese Kenntnisse der Analyse zu unterwerfen, würde in der gleichen Formel die Bewegungen der größten Himmelskörper und die des leichtesten Atoms einbegreifen. Nichts wäre für sie ungewiss, Zukunft und Vergangenheit lägen klar vor ihren Augen“ (zitiert nach Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Laplacescher_Dämon).

Das DN-Erklärungsmodell ist symmetrisch, man kann damit sowohl die Vergangenheit erklären als auch die Zukunft voraussagen. Das evolutionäre Erklärungsmodell, das seit dem Aufstieg der biologischen Wissenschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer mehr in den Vordergrund rückt, ist asymmetrisch, weil Mutationen, d.h. schlicht Zufall, nicht mit Gesetzen vorausgesagt, sondern nur im Nachhinein erklärt werden können.

"Daß der Logos der Genese nicht mehr in der Kausalität gesehen wird, ist verständlich – denn jede kausale Sicht (und jede HO-Erklärung) versagt, sobald die geschichtliche Entstehung biologischer, sozialer und kultureller Vielfalt zum Gegenstand der Frage wird“ (Poser 2012: 281-282).

3) Alternativen zum DN-Modell: Nach Georg Henrik von Wright (1974 [1971]) gibt es vier verschiedene Erklärungstypen.

(1) Kausale Erklärungen. Explanandum einer kausalen Erklärung ist ein intentionalistisch nicht interpretiertes Verhalten, d.h. eine Bewegung, ein Zustand des Körpers. Explanandum einer teleologischen Erklärung ist eine Handlung.

Haupttypen kausaler Erklärung:

  • Erklärungen mit Hilfe von hinreichenden Bedingungen. Warum war etwas notwendig?
  • Erklärungen mit Hilfe von notwendigen Bedingungen. Wie war etwas möglich? Es gibt kausale Erklärungen in den Sozialwissenschaften (Ursachen für die Zerstörung einer Stadt).

(2) Quasikausale Erklärungen. Diese Erklärungen antworten auf folgende Fragen: Was ist etwas (z.B. Schmerz und nicht Schrecken)? Aus welchem Grund (z.B. Unterdrückung)?

Eine der Aufgaben des Sozialwissenschaftlers ist: Die Ursachen von Kriegen, Revolutionen etc. herauszufinden. Wie diese Aufgabe erfüllt werden kann, führt von Wright am Beispiel des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges vor:

Voraussetzung: Die Ursache für den Ersten Weltkrieg bildet die Ermordung des Erzherzogs in Sarajevo im Juli 1914.
Explanandum: Ausbruch des Krieges.
Explanans: Die Schüsse von Sarajevo.

Der Historiker müsste die Richtigkeit dieser Erklärung prüfen. Der Philosoph muss die begriffliche Natur des Mechanismus untersuchen, der Explanans (Ursache) mit dem Explanandum (Wirkung) verknüpft.
Die Erklärung besteht oft einfach in dem Verweis auf eines oder mehrere frühere Ereignisse, die wir als deren Mit-Ursachen ansehen. Die Explananda und Explanantia solcher historischen Erklärungen sind logisch unabhängig, genau wie bei kausalen Erklärungen. Was beide verknüpft, ist nicht eine Menge allgemeiner Gesetze, sondern eine Menge singulärer Ereignisse, die die Prämissen praktischer Schlüsse bilden.
Die Conclusio, die aus diesen Prämissen gegebenen Motivationshintergrund gezogen wird, ist oft nicht das Explanandum selbst, sondern ein dazwischen liegendes Ereignis.
Dieses ist eine quasikausale Erklärung. Er gebraucht diesen Ausdruck, weil die Gültigkeit der Erklärung nicht von allgemeinen Gesetzen abhängt. Die Ereignisse sind durch praktische Syllogismen miteinander verbunden.

Praktische Prämissen:
Explanans: Eine Tatsache beeinflusst die Prämissen eines praktischen Schlusses.

Explanandum: Eine neue Tatsache ergibt sich als Conclusio aus den Prämissen.

Dieser Mechanismus ist ein intentionaler bzw. motivationaler, dessen Funktionieren als eine Reihe praktischer Schlüsse rekonstruiert werden kann.

(3) Quasiteleologische Erklärungen sind primär in den biologischen Wissenschaften zu Hause. Sie besitzen teleologische Terminologie und können auf kausale Erklärungen reduziert werden. Sie antworten auf Wie-möglich-Fragen (z.B. funktionale Erklärungen in der Biologie und Naturgesetzen). "Die Atembewegungen werden schneller, um den Oxygen-Verlust des Blutes zu kompensieren." Hier hat man eine Funktion in Bezug auf einen Zweck und damit eine Quasiteleologie. Zielgerichtetheit eines quasi-teleologischen Typs kann oft mit Hilfe eines negativen Feedbacks kausal erklärt werden (z.B. Vorgänge innerhalb der Kybernetik, Systemtheorie, Systemkontrolle und -steuerung, z.B. Homöostasis). Feedback ergänzt eine frühere Wie-möglich-Erklärung um eine Warum-notwendig-Erklärung.

(4) Teleologische Erklärungen. Es gibt nicht nur quasiteleologische, sondern auch teleologische Erklärungen, denn es gibt zwar Feedbackprozesse, in der Gesellschaft allerdings gilt: Der Ablauf des Feedbackprozesses stellt keinen Hume´schen Kausalvorgang unter allgemeinen Gesetzen dar, sondern eine motivationale, durch praktische Schlüsse herbeigeführte Zwangsläufigkeit.

Nicht alle teleologischen Erklärungen lassen sich mit Hilfe der Kybernetik auf eine kausale Analyse reduzieren, z.B. Intentionalität. Echt teleologische Erklärungen können "handlungs-ähnlich" genannt werden. Einer teleologischen Handlungserklärung geht ein Akt intentionalistischen Verstehens gewisser Verhaltensweisen voraus. Intentionalistische Erklärungen beschreiben einen Akt erster Stufe (Handlungen von einzelnen Personen).

In den Sozialwissenschaften sind weiterhin von Bedeutung Verstehensakte zweiter Stufe (Demonstration, Streik etc.).
Es geht sowohl bei individuellen als auch bei kollektiven Handlungserklärungen darum, die Bedeutung dessen, was passiert ist, zu verstehen. Diese Tätigkeit der Interpretation nennt er explikativ.

Meinungsdifferenz: Kausalisten zufolge ist eine Gesetzesaussage als Prämisse erforderlich. Intentionalisten zufolge kann auf eine Gesetzesaussage verzichtet werden.

Einwände von Sneed/Stegmüller müssen erläutert werden!

II. Induktive, substantielle, schlussregel-begründende, tentative, formal nicht gültige Argumentationsweisen

a. Induktion

Induktion bedeutet den Schluss aus beobachteten Phänomenen auf allgemeine Erkenntnisse, etwa einen allgemeinen Begriff oder ein allgemeines Gesetz.

b. Abduktion, Apagoge und Analogie

Die Abduktion steht für einen hypothetischen Schluss vom Einzelnen und einer Regel auf eine Regelmäßigkeit. Für Charles Sanders Peirce bildet die Abduktion den Ausgangspunkt des Erkenntnisprozesses (vgl. Peirce 1991).

Auch bei der Analogie geht es darum, aus Wissen und Vermutungen neues Wissen zu gewinnen.

All diese Argumentationsweisen sind im Entdeckungszusammenhang (context of discovery), nicht aber im Rechtfertigungszusammenhang (context of justification, vgl. Reichenbach 1983 [1938]: 3) von Bedeutung.

c. Hermeneutik: Hermeneutischer Zirkel als Spiralbewegung des Verstehens

Die Hermeneutik beschreibt, wie durch Dialog ein gemeinsames Verständnis möglich ist. Erst wenn dies vorliegt, kann man dazu übergehen, etwas zu erklären (von Wright 1974 [1971]). Eigentlich liegt dem hermeneutischen Zirkel eine Spiralbewegung zugrunde. Zwei Dialogpartner treten in Interaktion, sie weisen beide ein bestimmtes Vorverständnis zum Thema auf. So unterscheiden sich ihre Positionen zu Beginn des Gesprächs. Jeder Gesprächspartner rekonstruiert die Perspektive des Gegenübers und fügt neue Gedanken hinzu, wodurch sich auf jeder Stufe des Austauschs ein konvergenter Prozess ergibt. Dieser Annäherungsvorgang setzt sich im Sinne einer Spiralbewegung so lange fort, bis eine Horizontverschmelzung stattfindet – aus zwei divergierenden Positionen hat sich auf diesem kommunikativen Weg eine gemeinsame Erkenntnis entwickelt. Es entsteht also mehr als das reine Verständnis einer anderen Meinung, die subjektiv gefärbt ist. Da die Gesprächspartner in derselben geistesgeschichtlichen Tradition stehen, ergibt sich ein wechselseitiges Kontrollverfahren, das zu einem Ausgleich von Vorverständnis und fremder Meinung beiträgt. Das Ergebnis ist für alle Beteiligten verständlich, wodurch die wissenschaftliche Forderung nach Intersubjektivität erfüllt wird (vgl. Gadamer 2010 [1960], Apel 1970, Habermas 1970, Wernet 2009, Poser 2012 [2001]: 217-242).

d. Dialektik

"Die Grundfigur der Hermeneutik, an der die Problematik des Verstehens deutlich wurde, bildet bei Gadamer das Gespräch. Für die Behandlung der Dialektik empfiehlt es sich, ebenfalls von dort auszugehen; jedoch nicht das Verstehen des Gesprächs ist zu untersuchen, sondern die begriffliche Bewegung, die sich dabei vollzieht" (Poser 2012 [2001]: 243).

Dialektischer Dreischritt:

  • (i) These
  • (ii) Antithese
  • (iii) Synthese

"Es hat fast zwei Jahrhunderte gedauert, bis auch für Dialektiker klar war, daß die klassische Logik von ihnen nicht angetastet werden kann“ (Poser 2012 [2001]: 252).
"Dann aber ist Popper ein Prototyp des dialektischen Denkers, denn er fordert uns auf, zu einer Theorie eine konkurrierende zu suchen, da wir uns ihrer Vorläufigkeit bewusst sind (Poser 2012 [2001]: 264).

Fazit: Erklären und Verstehen sind komplementär, die aristotelische und die galileische Tradition ergänzen sich (vgl. von Wright 1974 [1971]) und werden sowohl in den Geistes- als auch in den Naturwissenschaften verwendet. Das Gleiche gilt für deduktive, analytische, schlussregel-gebrauchende, schlüssige, formal gültige Argumentationsweisen auf der einen und induktive, substantielle, schlussregel-begründende, tentative, formal nicht gültige Argumentationsweisen auf der anderen Seite (Toulmin 1996 [1958]).

P. Experiment

"Im Experiment wird eine Theorie oder eine Regelmäßigkeit daraufhin untersucht, ob sie sich zu einem bestimmten Grad bewährt bzw. mit welcher Wahrscheinlichkeit sie zutrifft. Hier wird der Blick immer vorrangig auf die Möglichkeiten einer Verallgemeinerung gerichtet" (Kornwachs 2013: 92).

Experimente spielen nur in empirischen Wissenschaften eine Rolle, aber nicht in praktischen Wissenschaften. Es wird die Bewährung einer Theorie, nicht aber die Erfüllung einer Funktion überprüft(vgl. Test).


5.4.2 Praktische (normative, pragmatische und technische) Wissenschaften Seitenanfang

A. Ausgangspunkt: Naturwissenschaften (Science) versus Technikwissenschaften (Engineering)

Innerhalb der Technikphilosophie wird ein struktureller Unterschied zwischen Natur- (Science) und Technikwissenschaften (Engineering) festgestellt (vgl. Poser 2001, Kornwachs 2013 sowie methodologischer Pluralismus).

B. Eigene Position: Empirische und praktische Diskurse sind komplementär

Ich finde die Argumentation für die Unterscheidung zwischen Experiment und Test überzeugend. Beim Experiment geht es um die Bewährung einer Theorie, beim Test hingegen wird die Erfüllung von Funktionen geprüft (vgl. Test).

Allerdings bin ich der Meinung, dass nicht nur die naturwissenschaftlichen Disziplinen, sondern alle empirischen (deskriptiven, explanativen und prognostischen) Wissenschaften Verfahren zur Reduktion von Komplexität anwenden, während praktische (normative, pragmatische und technische) Wissenschaften Verfahren zur Erzeugung von Komplexität betreiben.

Die Gegenüberstellung von Naturwissenschaften und Technikwissenschaften ist nur zu dem Teil überzeugend, wo ein struktureller Unterschied zwischen beiden herausgearbeitet wird. Der Name "Technikwissenschaften" wäre nur dann angebracht, wenn normative und pragmatische Überlegungen innerhalb dieser Wissenschaften keine Rolle spielen. Auch Kornwachs (2012: 77-94) betont die Bedeutung von ethischen Überlegungen. Weder die Durchführungslogik noch der pragmatische oder praktische Syllogismus reichen aus, einen adäquaten normativen Diskurs zu führen. Daher ist es meiner Meinung nach sinnvoller, Ingenieurwissenschaften bzw. Technikwissenschaften als praktische Wissenschaften einzustufen. Erst damit können alle praktisch relevanten Fragen methodologisch adäquat gelöst werden.

C. Ausgangspunkt: Bedarf an praktischen Wissenschaften

Der Bedarf an praktischen Wissenschaften ergibt sich vor allem daher, dass genuin praktische Fragestellungen mit Hilfe von empirischen Wissenschaften nicht bearbeitet werden können.

"Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann und - unter Umständen - was er will (Weber 1973c [1904]: 151).

"Auch in diesem Fall handelt es sich, was die formale Struktur angeht, immer noch um Aussagen über Faktisches. Keine Disziplin vom Typus der neuzeitlichen Naturwissenschaft kann einem jedoch verläßliche Auskunft darüber geben, was man eigentlich wollen soll. Eine solche Wissenschaft kann zwar Möglichkeiten für die Anwendung ihrer Resultate eröffnen. Über die Berechtigung des Menschen, entsprechende Ziele zu verfolgen, vermag sie jedoch mit ihren Mitteln nichts auszumachen. Nur eine Notlösung ist es, unter diesen Umständen Faktisches und Normatives randscharf den Sphären der Erkenntnis und andererseits des Bekenntnisses zuzuordnen" (Wieland 1986: 26).

"Die neuzeitlichen Wissenschaften haben zur Lösung der ethischen Grundprobleme des menschlichen Handelns nichts beigetragen. Sie haben im Gegenteil durch ihre Existenz, durch die gewollten und mehr noch durch die ungewollten Folgen ihrer Arbeit der Ethik neue, bis dahin nicht bedachte Probleme gestellt sowie andere, bereits virulente Probleme verschärft. Daraus darf man ihnen freilich keinen Vorwurf machen. Ihr Erfolg beruht nun einmal auch auf ihrer Fähigkeit, sich von allen ihren Grundlagen betreffenden Fragen zu distanzieren, sie gleichsam einzuklammern und ihre Beantwortung auf sich beruhen zu lassen. Auch das ethische Problemfeld gehört zu dem, was eine Wissenschaft im neuzeitlichen Sinn bereits eingeklammert haben muß, wenn sie mit ihrer Arbeit beginnt. Das gilt nicht nur in Bezug auf die traditionellen ethischen Probleme, sondern ebenso auch für die Normierungsprobleme, die nur unter Bedingungen dringlich werden, die wie die Existenzbedingungen der modernen Welt ohne die Wissenschaft und ohne die Anwendung ihrer Ergebnisse gar nicht gegeben wären" (Wieland 1986: 13).

"So sehr die wissenschaftstheoretische Reflexion in unserer Gegenwart Erfolg hatte, wenn sie sich darum bemühte, für die Analyse der theoretischen Disziplinen geeignete begriffliche Werkzeuge zu entwickeln, so wenig hat sie sich bisher, von Ausnahmen abgesehen, der Aufgabe angenommen, die entsprechende Arbeit auch für die praktischen Disziplinen zu leisten. Wer dieser Aufgabe gerecht werden will, kann sich freilich nicht damit begnügen, die auf die Analyse der theoretischen Disziplinen zugeschnittene Begrifflichkeit lediglich per analogiam zu modifizieren. Bei der Behandlung mancher Teilprobleme mag dies gewiß nützlich sein" (Wieland 1986: 32-33).

D. Eigene Position: Methodologische Eigenständigkeit genuin praktischer Diskurse

Empirische Wissenschaften reichen alleine nicht aus, um Handlungsmaximen, Handlungsstrategien oder konkrete Handlungsinstrumente zu begründen. An ihre Seite treten die praktischen Wissenschaften: Sie setzen sich mit der Frage auseinander, wie in einer bestimmten Situation zu handeln ist, und liefern dazu eine wissenschaftliche Begründung. Aus zwei Gründen ist der Bedarf an praktischen Wissenschaften unerlässlich:

  1. weil allein mit Hilfe von empirischen Wissenschaften praktische Fragestellungen nicht erörtert werden können (5. Schaubild) und
  2. aufgrund der methodologischen Eigenständigkeit genuin praktischer Diskurse (vgl. 4. Schaubild)

E. Ausgangspunkt: Normative Reflexion oder Exegese. Wissenschaft ist unfähig Geltungs- oder Sollensfragen zu behandeln

"Was ist unter diesen inneren Voraussetzungen der Sinn der Wissenschaft als Beruf, da alle diese früheren Illusionen: ´Weg zum wahren Sein´, ´Weg zur wahren Kunst´, ´Weg zur wahren Natur´, ´Weg zum wahren Gott´, ´Weg zum wahren Glück´, versunken sind? Die einfachste Antwort hat Tolstoj gegeben mit den Worten: ´Sie ist sinnlos, weil sie auf die allein für uns wichtige Frage: ´Was sollen wir tun? Wie sollen wir leben?´ keine Antwort gibt. Die Tatsache, daß sie diese Antwort nicht gibt, ist schlechthin unbestreitbar" (Weber 1973f [1919]: 598 [540]).

"´Wer beantwortet, da es die Wissenschaft nicht tut, die Frage: was sollen wir denn tun? und wie sollen wir unser Leben einrichten?´, oder in der heute abend hier gebrauchten Sprache: ´welchem der kämpfenden Götter sollen wir dienen? oder vielleicht einem ganz anderen, und wer ist das?´, - dann ist zu sagen: nur ein Prophet oder ein Heiland. Wenn der nicht da ist oder wenn seiner Verkündigung nicht mehr geglaubt wird, dann werden Sie ihn ganz gewiß nicht dadurch auf die Erde zwingen, daß Tausende Professoren als staatlich besoldete oder privilegierte kleine Propheten in ihren Hörsälen ihm seine Rolle abzunehmen versuchen" (Weber 1973f [1919]: 609 [551]).

"Die Wissenschaften, normative und empirische, können den politisch Handelnden und den streitenden Parteien nur einen unschätzbaren Dienst leisten, nämlich ihnen zu sagen: 1. es sind die und die verschiedenen ´letzten´ Stellungnahmen zu diesem praktischen Problem denkbar; - 2.  so und so liegen die Tatsachen, mit denen ihr bei eurer Wahl zwischen diesen Stellungnahmen zu rechnen habt. - Damit sind wir bei unserer ´Sache´". [...] "Daß die Wissenschaft 1. ´wertvolle´, d.h. logisch und sachlich gewertet richtige und 2. ´wertvolle´, d.h. im Sinne des wissenschaftlichen Interesses wichtige Resultate zu erzielen wünscht, daß ferner schon die Auswahl des Stoffes eine ´Wertung´ enthält, - solche Dinge sind trotz alles darüber Gesagten allen Ernstes als ´Einwände´ aufgetaucht" (Weber 1973e [1917]: 499 [461]).

"Philosophische Disziplinen können darüber hinaus mit ihren Denkmitteln den ´Sinn´ der Wertungen, also ihre letzte sinnhafte Struktur und ihre sinnhaften Konsequenzen ermitteln, ihnen also den ´Ort´ innerhalb der Gesamtheit der überhaupt möglichen ´letzten´ Werte anweisen und ihre sinnhaften Geltungssphären abgrenzen. Schon so einfache Fragen aber, wie die: inwieweit ein Zweck die unvermeidlichen Mittel heiligen solle, wie auch die andere: inwieweit die nicht gewollten Nebenerfolge in Kauf genommen werden sollen, wie vollends die dritte, wie Konflikte zwischen mehreren in concreto kollidierenden, gewollten oder gesollten Zwecken zu schlichten seien, sind ganz und gar Sache der Wahl oder des Kompromisses. Es gibt keinerlei (rationales oder empirisches) wissenschaftliches Verfahren irgendwelcher Art, welches hier eine Entscheidung geben könnte. Am allerwenigsten kann diese Wahl unsere streng empirische Wissenschaft dem Einzelnen ersparen sich anmaßen, und sie sollte daher auch nicht den Anschein erwecken, es zu können" (Weber 1973e [1917]: 508 [470]).

"Der Sinn von Diskussionen über praktische Wertungen (der an der Diskussion Beteiligten selbst) kann also nur sein:
a) Die Herausarbeitung der letzten, innerlich ´konsequenten´ Wertaxiome, von denen die einander entgegengesetzten Meinungen ausgehen. [...]
b) Die Deduktion der ´Konsequenzen´ für die wertende Stellungnahme, welche aus bestimmten Wertaxiomen folgen würden, wenn man sie, und nur sie, der praktischen Bewertung von faktischen Sachverhalten zugrunde legte. [...]
c) Die Feststellung der faktischen Folgen, welche die praktische Durchführung einer bestimmten praktisch werdenden Stellungnahme zu einem Problem haben müßte: 1. infolge der Gebundenheit an bestimmte unvermeidliche Mittel, - 2. infolge der Unvermeidlichkeit bestimmter, nicht direkt gewollter Nebenerfolge. Diese rein empirische Feststellung [...]
d) neue Wertaxiome und daraus folgende Postulate vertreten, welche der Vertreter eines praktischen Postulats nicht beachtet und zu denen er infolgedessen nicht Stellung genommen hatte, obwohl die Durchführung seines eigenen Postulats mit jenen anderen entweder 1. prinzipiell oder 2. infolge der praktischen Konsequenzen, also: sinnhaft oder praktisch, kollidiert. Im Fall 1 handelt es sich bei der weiteren Erörterung um Probleme des Typus a, im Falle 2 des Typus c" (Weber 1973e [1917]: 510-511 [472-473]).

Diese Position von Weber wird auch heute noch im Mainstream der Wissenschaften weitgehend akzeptiert (Krobath 2009, für die Politikwissenschaft Schmidt/Wolf/Wurster 2013b: 7-8, für die Wirtschaftswissenschaften siehe Kolan 1996, Maurer 2004, vgl. Lauer: praktische-politikwissenschaft.de. 2.2 Praktische (normative, pragmatische und technische) Politikwissenschaft).

F. Eigene Position: Praktische (normative, pragmatische und technische) Wissenschaften ermöglichen einen rationalen Diskurs über Geltungs- oder Sollensfragen

Ein genuin praktischer Diskurs umfasst nicht nur Fragen nach der Wahl der Mittel, sondern auch auch Geltungsfragen. Mit Hilfe von praktischen (normativen, pragmatischen und technischen) Wissenschaften kann man methodologisch begründete Sollensfragen bearbeiten, allerdings nur hypothetische Antworten formulieren genau wie übrigens in empirischen Wissenschaften auch. Es gibt praktische (normative, pragmatische und technische) Werkzeuge, die über normative Reflexion oder Exegese hinausgehen.

Auch innerhalb von Fachwissenschaften kann ein normativer Diskurs stattfinden. Hier sollen nun vor allem die wissenschaftstheoretischen Grundlagen von praktischen Wissenschaften dargestellt werden. Die Methoden und methodischen Ansätze einer praktischen Politikwissenschaft werden im Folgenden erörtert (vgl. 7. Schaubild).

G. Aufgaben und Ziele praktischer Wissenschaften

Praktische (normative bzw. ethisch-moralische, pragmatische und technische) Wissenschaften ermöglichen sowohl Regulierungsvorschläge als auch Fragen danach, was zu tun sei, zu erörtern, zu begründen und zu beurteilen. Praktische Vernunft als handlungsleitende Vernunft soll allgemeinverbindliche Normen ermöglichen, begründen und rechtfertigen. Die Normen sollen auch auf individuelle, konkrete Situationen angewandt werden, der Handelnde soll zu seinem Verhalten motiviert werden. Weiterhin müssen Ordnungen gestaltet werden, die ein Miteinander ermöglichen.

"Die Bemühungen der praktischen Philosophie zielten seit ihren Anfängen darauf ab, auf die Frage, wie zu leben sei, eine Antwort zu geben, die nicht darin aufgeht, Ausdruck einer Entscheidung zu sein, sondern einer vernünftigen Begründung fähig ist" (Wieland 1989: 7).

"Es gehört zu den zentralen Aufgaben der praktischen Philosophie, Methoden zu entwickeln, die es erlauben, Handlungsnormen nicht nur ausfindig zu machen und zu formulieren, sondern auch die von diesen Normen beanspruchte Allgemeinverbindlichkeit zu beurteilen und zu legitimieren. Von alters her werden Handlungsanweisungen in der praktischen Philosophie auch auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit hin untersucht, wenn Grund und Art ihrer Verbindlichkeit geprüft werden sollen" (Wieland 1989: 12).

Das Ziel praktischer Wissenschaften ist analog zu der von Wieland formulierten Zielen praktischer Philosophie, Handeln, nicht Erkenntnis, steht im Vordergrund, genauer das zu Tuende (res gerendae). Praktisch heißen diese Wissenschaften nicht, weil sie zutreffende Sätze über Handlungen gewinnen wollen. Vielmehr besteht ihre Aufgabe darin, Handlungen selbst zu ermöglichen, zu begründen und zu rechtfertigen - und nicht Sätze über Handlungen zu konstatieren. Die Praktische Vernunft ist die Handlungsleitende Vernunft: Sie soll in einer Gesellschaft dazu führen, dass Normen formuliert werden, die allgemeinverbindlichen Charakter besitzen. Diese Normen sind auch zu begründen und zu rechtfertigen. Der Sinn dieser normativen Vorgaben ist es, dem Einzelnen in konkreten Situationen ein Instrumentarium an die Hand zu geben, um für ihn und die Gesellschaft eine adäquate Lösung zu finden. Zu einem solchen Verhalten muss der Einzelne motiviert werden. Die gesellschaftliche Ordnung ist durch diesen normativen Rahmen so zu gestalten, dass ein friedliches Miteinander der Bürger möglich wird. Dabei existiert in den Praktischen Wissenschaften keine "Wenn-dann-Struktur", wie sie oben für die Theoretischen Wissenschaften genannt wurde. Denn jedem Handeln kommt das Merkmal der Unbedingtheit zu, die sich zum Beispiel in der Unwiderruflichkeit jeder Handlung charakterisiert. Um dieser Unbedingtheit willen kann man sich, wenn es um die Normierung des Handelns geht, niemals mit hypothetischen Strukturen zufrieden geben. Es gibt keine Möglichkeit, eine Handlung bedingungsweise zu realisieren. Daher bedarf die ethische Reflexion der Gewissheit, ob eine in Aussicht genommene Handlung geboten, erlaubt oder verboten ist. Die Frage "was soll ich tun?" verlangt in jeder Situation eine definitive Antwort, sie kann aber leider, genau wie empirischen Fragen, wissenschaftlich nur hypothetisch beantwortet werden aufgrund der Grenzen wissenschaftlicher Diskurse.

Wissenschaft kann neben hypothetisch begründeten Antworten auch noch wissenschaftlich begründete Entscheidungsverfahren entwerfen und damit entscheidend zu rationalen und systematischen Entscheidungen beitragen (vgl. Lauer: praktische-politikwissenschaft.de, 4.2.5 Dezisionistischer Ansatz).

H. Gegenstandsbereich praktischer Wissenschaften

Praktische Wissenschaften behandeln nicht Faktenfragen, sondern Geltungsfragen, d.h. Normierungen und Regulierungen stehen im Fokus.

Im Ergebnis generieren praktische Wissenschaften normative Theorien, die präskriptiv, nachprüfbar und begründungsfähig sind. Es werden Normen und Regeln formuliert und keine Aussagen über Normen getroffen, wie es die theoretischen (empirisch-analytischen) Wissenschaften machen, die deskriptiv, explanativ und prognostisch vorgehen. Damit ist aber nicht gesagt, dass die Praktischen Wissenschaften nur Handlungsanweisungen hervorbringen, die sich auf die Urteilskraft (Phronesis) der praktischen Vernunft abstützen. Vielmehr entsteht hier auch Wissen (episteme), das neue Erkenntnisse mit sich bringt. Daher orientiert sich diese Einteilung der Wissenschaften nicht am System des Aristoteles, sondern an den Kriterien von Immanuel Kant. Praktische Wissenschaften generieren praktisches Wissen (vgl. 7. Schaubild sowie 5. Schaubild).

Eine etwas andere Gewichtung findet sich bei Wolfgang Wieland, richtige Sätze über das Handeln gehören meiner Meinung nach zu den empirischen Wissenschaften:

"Der Name der praktischen Vernunft soll hier jenes Vermögen bezeichnen, das mit dem Anspruch auftritt, das Handeln des Menschen gemäß der Weisung allgemeinverbindlicher Normen ermöglichen, begründen und rechtfertigen zu können. Die praktische Vernunft, so verstanden, ist ihrer Idee nach handlungsleitende Vernunft. Der Name der praktischen Philosophie soll dagegen auf eine Disziplin verweisen, die auf Prinzipien reflektiert, wenn sie sich mit der praktischen Vernunft inmitten der Welt des Handelns als mit ihrem Gegenstand befaßt. Die praktische Vernunft bezweckt richtiges Handeln; die praktische Philosophie zielt dagegen darauf ab, richtige Sätze über dieses Handeln zu gewinnen und zu begründen" (Wieland 1989: 9).

"Praktische Wissenschaften im Sinne der älteren, vorübergehend in Vergessenheit geratenen Tradition sind so konzipiert, daß sie es ermöglichen, Fragen danach, was zu tun sei, innerhalb ihrer zu erörtern und auf begründete Weise zu beantworten" (Wieland 1986: 29).

"Praktisch sind aber die dieser Hemisphäre zugeordneten Wissenschaften nicht deswegen, weil sie die Welt des Handelns oder einen Ausschnitt aus ihr zum Gegenstand des Erkennens machen würden. Praktisch sind sie deswegen, weil ihr Ziel nicht darin besteht, zutreffende Sätze über Handlungen zu gewinnen, sondern darin, Handlungen selbst zu ermöglichen, zu begründen und zu rechtfertigen, mag es dabei nun um konkrete Einzelhandlungen oder um generelle Handlungsschemata gehen. Um dieses Ziel zu erreichen, können die praktischen Wissenschaften natürlich Hilfsmittel benutzen, die von den theoretischen Disziplinen bereitgestellt werden. Erkenntnisse von Sachverhalten, so verläßlich sie im Einzelfall auch begründet sein mögen, erfüllen hier jedoch immer nur Dienstfunktionen" (Wieland 1986: 30).

I. Wissensform

Praktische Wissenschaften generieren praktisches (normatives, pragmatisches und technisches) Wissen.

Grenzen praktischer Wissenschaften oder Grenzen praktischer Werkzeuge (Begriffe, Sätze, Theorien, Logiken, Argumentationsweisen, Methoden und methodische Ansätze, siehe 3.2.1 Aufgaben und Grenzen wissenschaftlicher Diskurse, insbesondere Unmöglichkeitstheorem, Prima-facie-Eigenschaft von Normen, Aporien der praktischen Vernunft, Sein-Sollen-Grenze).

Wie die empirischen Wissenschaften stoßen auch die praktischen Wissenschaften auf bestimmte Grenzen. Die Grenzen der empirischer Wissenschaften sind gleichzeitig auch Grenzen der praktischer Wissenschaften, weil die Ergebnisse der theoretischen Wissenschaften bei der Erstellung von praktischen Theorien (Normierungen bzw. Regulierungen) berücksichtigt werden müssen, da in vielen Normierungen auf den Stand von Wissenschaft und Forschung ausdrücklich Bezug genommen wird. Weiterhin hat Max Weber (1973e [1917]) gezeigt, dass es unmöglich ist, mit den Methoden der Sozialwissenschaft Grundwerte nachzuweisen. Das liegt nicht zuletzt an der besonderen Struktur des theoretischen Wissens, nämlich an der Wenn-dann-Struktur.

J. Normenkonflikte und Normenvermittlung.

Die praktische Vernunft kann also prinzipiell keine definitive Antwort geben, was zu tun ist. Wenn prinzipielle Lösungen nicht möglich sind, dann bleibt es nur bei Annäherungen oder verschiedenen Alternativen. Handeln verlangt aber eine definitive Antwort, diese wird nun in Form einer Entscheidung bzw. durch konkretes Handeln vorgenommen, wobei Nicht-Entscheiden bzw. Nicht-Handeln auch eine Entscheidung bzw. Handeln ist.

Das Feld muss nun meiner Meinung nach nicht einem willkürlichen Dezisionismus überlassen werden. Die Rationalität kann uns hier entscheidend weiterhelfen, dadurch dass sie uns rationale Entscheidungsregeln zur Verfügung stellt, z.B. die vielen demokratischen Entscheidungsverfahren. Entscheidungssysteme können die oben genannten Defizite (Grenzen der praktischen Vernunft) nicht aufheben, sondern sie bringen ein zusätzliches rationales Begründungsverfahren, da mehrere Alternativen zur Auswahl stehen. Vor allem werden damit für alle verbindliche Regeln geschaffen und wird eine Haftung für die Folgen übernommen (vgl. Wieland 1999, Lauer: praktische-politikwissenschaft.de. 4. Kapitel: Methodische Ansätze einer praktischen (normativen, pragmatischen und technischen) Politikwissenschaft).

K. Kriterien praktischer Wissenschaften siehe 3.2.2 Kriterien wissenschaftlicher Diskurse. Rationalitätspostulate: Methodologische (argumentative, logische, methodische und sprachliche) Präzision.

L. Eigenschaften praktischer Wissenschaften

Im Gegensatz zur klassischen Logik sind Normen bzw. Regeln sowie Normierungen bzw. Regulierungen nicht wahrheitsfähig. Regulierungen sind richtig oder falsch, sofern es sich um Handlungsmaximen handelt. Handlungsstrategien bzw. pragmatische Regeln sind klug oder unklug bzw. wünschenswert oder unerwünscht. Handlungsinstrumente und Handlungsanweisungen sind effektiv (wirksam) oder uneffektiv (unwirksam).

Der Begriff "Normaussagen“ bzw. "normative Aussagen“ kann zu Missverständnissen führen, weil z.B. suggeriert wird, dass eine Norm in Form eines Aussagesatzes formuliert werden kann oder eine Norm eine Aussage trifft; beides ist falsch. Daher gilt auch diese Formulierung nicht: "Normative Aussagen sind wahr, wenn die Normen, deren Gültigkeit sie behaupten, tatsächlich gültig sind. Gültige Normen sind der Inhalt wahrer normativer Aussagen" (Ladwig 2006: 256). Es sind nur Aussagen über Normen möglich (Details vgl. 4.3.6 Eigenschaften wissenschaftlicher Diskurse).

 M. Begriffsebene praktischer Wissenschaften

Praktische Theorien verwenden praktische (normative, pragmatische und technische) Begriffe (vgl. 5.4.3 Praktisch-politische (normative, pragmatische und technische) Begriffe und Diskurse).

"Mit Hilfe praktischer Begriffe bestimmt man, was sein soll oder nicht sein soll, nicht aber, was ist oder nicht ist. Sie dienen daher auch dazu, mögliche Ziele von gebotenen, erlaubten oder verbotenen Handlungen zu charakterisieren. Dagegen sind sie dort unbrauchbar, wo lediglich das Bestehen oder Nichtbestehen von Sachverhalten konstatiert werden soll" (Wieland 1986: 38).

N. Satzebene praktischer Wissenschaften

Praktische Theorien enthalten auf der Satzebene ethisch-moralische Normen (Handlungsmaximen), pragmatische und Regeln (Handlungsstrategien), technische Normierungs- und Regulierungssysteme (Handlungsinstrumente) und praktische Urteile (Handlungsanweisungen).

O. Theorieebene praktischer Wissenschaften

Praktische Theorien bestehen aus Normierungen bzw. Regulierungen, d.h. Systemen von Aussagen, Normen und Regeln. Es handelt sich dabei um präskriptive, nachprüfbare und begründungsfähige praktische (normative, pragmatische und technische) Theorien, keine Aussagen über Normen.

Auch praktische Wissenschaften bringen Wissen (Episteme) hervor und zwar praktisches Wissen (Klugheitsregeln) und nicht nur Phronensis (Klugheit), Letzteres gehört zum praktischen Können. Daher wird nicht die aristotelische, sondern die Einteilung von Wolfgang Wieland übernommen, die sich der kantischen Einteilung der Wissenschaften anschließt. Es gibt  praktische Wissenschaften, die praktisches Wissen generieren.

P. Logikebene praktischer Wissenschaften

Formale Schlüsse bezogen auf praktische Begriffe und Sätze, in diesem Fall auf Normen oder technische Regeln.

Normenlogik (Tun-Sollen, nicht Sein-Sollen (von Wright 1977g [1974]. Zur Logik der Normen vgl. Kalinowski 1973, von Kutschera 1973. Zur Logik allgemein vgl. von Kutschera/Breitkopf 2007, Stuhlmann-Laeisz 2002).

Juristische Logik (Weinberger 1970).

Technische Regeln und ihre formalen Beziehungen können nicht mit der Aussagen- und Modallogik wiedergegeben werden, sondern bedürfen einer Durchführungslogik aufgrund der logischen Struktur des technischen Wissens. Die Prädikate sind entweder effektiv oder uneffektiv. Das technische Wissen hat damit einen Sui-generis-Charakter und Technikwissenschaften sind keine angewandte Naturwissenschaft (Bunge 1967b, Poser 2008b, Kornwachs 2008, Kornwachs 2012, Details vgl. 4.3.6 Eigenschaften wissenschaftlicher Diskurse).

Q. Argumentationsebene praktischer Wissenschaften

Nicht nur innerhalb empirischer Wissenschaften gibt es eine große Vielfalt von Argumentationsweisen bzw. komplexe logische Strukturen, dies findet man auch innerhalb praktischer Theorien.

a. Empirische und praktische Argumentationsweisen:

  1. Argumentationsmodell von Toulmin (Toulmin Model of Argument),
  2. Argument Maps.

I. Argumentationsmodell von Toulmin

  1. Behauptungen (claims),
  2. Daten (data),
  3. Schlussregeln (warrants),
  4. modale Operatoren (modal qualifiers),
  5. Bedingungen der Zurückweisung (conditions of rebuttal),
  6. Aussagen über Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit von Schlussregeln (statements about the applicability or inapplicability of warrants) und
  7. andere (others).

"Es gibt in praktischen Argumentationen ein gutes halbes Dutzend Funktionen, die durch Behauptungen verschiedener Art ausgeführt werden müssen. Sobald man dies anerkennt, wird es notwendig, nicht nur zwischen Prämissen und Schlussfolgerungen zu unterscheiden, sondern zwischen Behauptungen, Daten, Schlussregeln, modalen Operatoren, Bedingungen der Zurückweisung, Aussagen über Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit von Schlussregeln“ (Toulmin 1996 [1958]: 127, vgl. Kapitel III, 86–130, englische Fassung Toulmin 2003 [1958]: 131).

II. Argument Maps.

"An Argunet argument map visualises the structure of complex argumentations and debates as a graphical network. In this network all nodes are either sentences or arguments and all relations between them are either attack or support relations" (argunet: http://www.argunet.org/help/#faq-argument-map, 9.4.2013, vgl. Tetens 2004, Betz 2010).

b. Praktische Argumentationsweisen

  1. Praktischer Syllogismus
  2. Intentionalistischer Syllogismus
  3. Pragmatischer Syllogismus

I. Praktischer Syllogismus

"A beabsichtigt, p herbeizuführen.
A glaubt, dass er p nur dann herbeiführen kann, wenn er a tut.
Folglich macht sich A daran, a zu tun" (Wright 1974 [1971]: 93, vgl. von Wright 1977c [1963], von Wright 1977d [1972]).

Der praktische Syllogismus schließt nach von Wright eine bestehende methodologische Lücke in den Humanwissenschaften. Er liefert ein Erklärungsschema, das eine deutliche Alternative zum subsumtionstheoretischen Gesetzesschema der Erklärung ist. Dieses Schema eines praktischen Syllogismus ist eine auf den Kopf gestellte teleologische Erklärung. Praktische Schlüsse sind Umkehrungen von teleologischen Erklärungen.

II. Intentionalistischer Syllogismus

"Von jetzt beabsichtigt A, p zum Zeitpunkt t herbeizuführen.
Von jetzt an glaubt A, dass er p zum Zeitpunkt t nur dann herbeiführen kann, wenn er a nicht später als zum Zeitpunkt t' tut.
Folglich macht sich A nicht später als zu dem Zeitpunkt daran, a zu tun, wo er glaubt, dass der Zeitpunkt t' gekommen ist - es sei denn, er vergisst diesen Zeitpunkt, oder er wird gehindert" (von Wright 1974 [1971]: 102, vgl. Anscombe 1963).

III. Pragmatischer Syllogismus

Es gibt nur eine pragmatische, aber keine logische Beziehung zwischen gesetzesartigen Aussagen oder Propositionen, z.B. wenn A, dann B, und dazugehörigen Regeln oder Anweisungen, z.B.  B per A, wenn du B erreichen willst, dann versuche A (vgl. Kornwachs 2008: 139 und Kornwachs 2012: 64 ff.). Es gibt einen Unterschied "zwischen den Aussagen A und B und der zugehörigen Handlung A oder eines realen Zustands B, der durch die Handlung A ins Werk gesetzt wird" (Kornwachs 2012: 65).

Diese Notation übernimmt Kornwachs von Mario Bunge (1967). "Der pragmatische Syllogismus ist ein Ergebnis der pragmatischen Interpretation einer deduktiv-nomologischen Erklärung und deren Verknüpfung mit einem normativen Satz, z.B. dass B gewünscht werde. Bunge nennt diesen Ausdruck zuweilen technologische Regel" (Kornwachs 2012: 67).

Das Unterkapitel von Mario Bunge lautet "Technological Rule" (Bunge 1967: 132-139). Mario Bunge verwendet die Ausdrücke "nomological statement" (nomothetische Aussagen) und "nomopragmatic statement". Die Übersetzung Letzterer ist nicht so einfach, eine wörtliche Übersetzung "nomopragmatische Aussagen" ist aus verschiedenen Gründen nicht sinnvoll, eher schon "technologische Regeln", wie die Kapitelüberschrift nahe legt (Bunge 1967b: 132-139).

R. Test

"Beim Test einer Regel werden hingegen ein Bauteil, ein Zusammenbau oder eine ganze Anlage auf die Erfüllung von Funktionen überprüft, die vorher in Abhängigkeit von angenommenen Rand- und Anfangsbedingungen vermutet worden sind" (Kornwachs 2013: 92). Im Experiment hingegen wird die Bewährung einer Theorie überprüft.


5.4.3 Praktisch-politische (normative, pragmatische und technische) Begriffe und Diskurse Seitenanfang

A. Ausgangspunkte: Bewertungsstufen und Imperative innerhalb eines genuin praktischen Diskurses

"Alle Imperativen nun gebieten entweder hypothetisch oder kategorisch. Jene stellen die praktische Notwendigkeit seiner möglichen Handlung als Mittel zu etwas anderem, was man will (oder doch möglich ist, daß man es wolle), zu gelangen vor. Der kategorische Imperativ würde der sein, welcher eine Handlung als für sich selbst, ohne Beziehung auf einen anderen Zweck, als objektiv-notwendig vorstelle" (Kant 1965 [1785]: 34 [414]).

"Alle Wissenschaften haben irgend einen praktischen Teil, der aus den Aufgaben besteht, daß irgend ein Zweck für uns möglich sei, und aus Imperativen wie er erreicht werden könne. Diese können daher überhaupt Imperativen der Geschicklichkeit heißen" (Kant 1965 [1785]: 35 [415]).

"Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde" (Kant 1965 [1785]: 58 [434]).

"Alle Maximen haben nämlich 1. eine Form, welche in der Allgemeinheit besteht, und da ist die Formel des sittlichen Imperativs so ausgedrückt: daß die Maximen so müssen gewählt werden, als ob sie wie allgemeine Naturgesetze gelten sollten; 2. eine Materie, nämlich einen Zweck, und da sagt die Formel: daß das vernünftige Wesen als Zweck seiner Natur nach, mithin als Zweck an sich selbst, jeder Maxime zur einschränkenden Bedingung aller Bloß relativen und willkürlichen Zwecke dienen müsse; 3. eine vollständige Bestimmung aller Maximen durch jene Formel nämlich: daß alle Maximen aus eigener Gesetzgebung zu einem möglichen Reiche der Zwecke, als einem Reiche der Natur zusammenstimmen sollen" (Kant 1965 [1785]: 60 [436]).

"Die Regeln der Klugheit sind von der Art, daß man auf die Folgen setzen muß. Die Regeln der Tugend aber nicht" (I. Kant, Akad.-Ausg. XXIX 616, zitiert nach Wieland 1999a: 98).

Otfried Höffe hat die Unterschiede zwischen ethisch-moralischer, pragmatischer und technischer Ebene am Beispiel der Ethik sehr prägnant herausgearbeitet (Höffe (2009 [2007]: 22-28, vgl. auch Höffe 2006 [1996], Höffe 2004 [2003], Höffe 2012.

"Auf der untersten Stufe bewertet man Mittel und Wege auf ihre Tauglichkeit für beliebige Absichten oder Ziele. [...] Dieses ´gut für (irgend-)etwas´ schließt alles technische, taktische oder strategische, alles instrumentelle, auch funktionale Gutsein ein; es kann im weiteren Sinn des Wortes ´technisch gut´, auch ´fachlich gut´ heißen" (Höffe (2009 [2007]: 23). Hier kommt die technische Rationalität zum Einsatz und generiert technische Imperative, wobei pragmatische und technische Imperative nur hypothetischen Charakter haben.

"Auf der zweiten Bewertungsstufe wird, was man auf der untersten Stufe bloß voraussetzt, das Ziel seinerseits bewertet. Die Bewertung erfolgt mit Blick auf ein Ziel zweiter Stufe" [...] "Ob es um eine natürliche oder eine juristische Person, etwa eine Schule, ein Unternehmen oder einen Staat geht - auf der zweiten Stufe fragt man, ob deren Wohl befördert werde. Auf das ´für etwas gut´ folgt das ´für jemanden gut´ und auf die technische Stufe von Rationalität die pragmatische Rationalität samt pragmatischen Imperativ" (Höffe (2009 [2007]: 24-25). Auf dieser Ebene gibt es zwei Teilstufen, d.h. mit Hilfe der pragmatischen Rationalität können individualpragmatische oder sozialpragmatische Imperative erstellt werden. Als eine Sozialpragmatik wird der Utilitarismus mit dem Prädikat ´gut für alle Betroffenen` angeführt.

Die dritte Stufe ist dort gegeben, "wo man auf etwas stößt, das für sich selbst gut ist, gut schlechthin im Sinne von ´einfachhin´: ohne Zusätze und Voraussetzungen. Erst auf dieser dritten Bewertungsstufe wird alle hypothetische Verbindlichkeit aufgegeben und ein hinsichtlich der Verbindlichkeit voraussetzungsfrei, also ein uneingeschränkt Gutes erreicht. Man nennt es das moralisch Gute im engen und strengen Sinn" (Höffe (2009 [2007]: 26). Moralische Normen bestehen aus kategorischen Imperativen. Moral hat daher folgende Eigenschaft: "Hinsichtlich der Verbindlichkeit erhält sie den Rang eines unbedingt gültigen Anspruchs" (Höffe (2009 [2007]: 26).

"Innerhalb der dritten Stufe lassen sich noch zwei Teilstufen unterscheiden. Die untere Teilstufe, die Rechtsmoral, auch (politische) Gerechtigkeit genannt, besteht in Verbindlichkeiten, deren Anerkennung die Menschen einander schulden. [...] Die anspruchsvollere zweite Teilstufe, die Tugendmoral, besteht im verdienstlichen Mehr" (Höffe (2009 [2007]: 27).

"Eine allgemeine, nicht auf einen Lebensbereich beschränkte Ethik müßte dagegen diesen Bereich mitsamt den ihn konstituierenden Prinzipien, wie auch alle Lebensbereiche mitsamt den ihnen verfolgten Zielen, vorgängig einer normativen Beurteilung unterwerfen [...] Als Beispiel für ein sich hierzu reziprok verhaltendes normatives Konzept kann die Ethik-Kants dienen. Sie gründet sich auf die Autonomie der sittlichen Person, die ihre Freiheit - nicht ihre Würde - dadurch bewährt, daß sie selbst es ist, die das Gesetz gibt, dem sie sich zugleich unterstellt. Dieses Gesetz wird in den verschiedenen Formulierungen des kategorischen Imperativs dokumentiert" (Wieland 1999a: 54).

"Der Anspruch der allgemeinen Ethik zielt dagegen auf das Leben und auf die Existenz der sittlichen Person im ganzen, ohne sich auf bestimmte Sachbereiche einschränken zu lassen" (Wieland 1999a: 98).

"Nach diesem ethischen Model (Ethik-Kants Anmerkung JL) werden die Beziehungen zwischen Handlungen und Handlungsfolgen normativ lediglich durch hypothetische Imperative reguliert. Sie geben an, was unter der Voraussetzung zu tun ist, daß man bestimmte Ergebnisse, Folgen oder Effekte erreichen will. Die Verbindlichkeit des durch seinen kategorischen Charakter ausgezeichneten Imperativs gründet hingegen nicht in irgendwelchen Erfolgen in der realen Welt, die seine Befolgung in Aussicht stellen würde. Als Prinzip der Ethik stellt er überdies unmittelbare Anforderungen auch gar nicht an konkrete Handlungen, sondern nur an Maximen, auf Grund deren Menschen ihre Handlungsentscheidungen regulieren. Sie fungieren als Primärobjekt der ethischen Grundnorm, weil sie es sind, die den von dieser Norm vorgezeichneten Test auf ihre zugleich vom Willen zu approbierende Verallgemeinerungsfähigkeit bestehen müssen. Die Maximen stehen indessen allemal in der Macht des Individuums, ungeachtet der Folgen, die seine Handlungen zeitigen. Damit hängt es denn auch zusammen, daß nicht über den Inhalt des Gesollten, wohl aber über den sittlichen Wert einer Handlung letztlich nur die sie veranlassende Motivation entscheidet. [...] Folgenorientierte Einzelnormen sind möglich, aber sie bedürfen als solche keiner folgenbasierten Begründung, weil eine gültige Begründung immer nur auf die vom Willen getragene Verallgemeinerungsfähigkeit der handlungsleitenden Maxime rekurriert. So ist der Mensch nach der kantischen Sittenlehre gehalten, für seine eigene Person sittliche Vollkommenheit anzustreben, dagegen in bezug auf andere Menschen deren Glück zu befördern" (Wieland 1999a: 55).

"Technische Normen gelten im Einzugsbereich vorgegebener Wenn-Dann-Beziehungen. Ethische Normen stellen dagegen auch diese Beziehungen selbst und ihre Voraussetzungen für eine Normierung zur Disposition. Es sind nicht hypothetisch, sondern kategorisch geltende Normen" (Wieland 1999a: 95-96).

"Gewiß räumt so gut wie jede ethische Theorie die Existenz von Adiaphora ein, also von Elementen, die von der ethischen Normierung freigestellt sind, oder genauer, deren normative Status durch eben diese Freistellung charakterisiert ist" (Wieland 1999a: 83).

"Der Ethiker muß das Faktische gewiß zur Kenntnis nehmen; er kann ihm hingegen niemals normative Kraft zubilligen. Das darf höchstens der Techniker, und dies auch nur insofern, als er Normen entwickeln kann, die dazu bestimmt sind, Optimierungen unter der Voraussetzung von faktischen Vorgaben zu regulieren. Eine Ethik, die sich ihre Aufgaben nicht verkürzen lassen will, darf sich dagegen niemals damit zufrieden geben, lediglich Handlungsnormierungen unter gegebenen Voraussetzungen vorzunehmen. Sie steht immer in der Pflicht zur Letztbegründung. Auf die Legitimation von nur hypothetisch geltenden Normen darf sie sich auch deswegen nicht einschränken lassen, weil es in letzter Instanz kein hypothetisches Handeln geben kann. Ihre Grundfrage richtet sich ohne Bindung an irgendwelche Voraussetzungen darauf, was der Mensch tun soll. Als Ethik hat sie bereits abgedankt, wenn sie gerade die zentralen Fragen der Handlungsnormierung aus dem Zugriff ihrer Kompetenz entläßt" (Wieland 1999a: 85).

Hans Michael Baumgartner und Albin Eser: "Wir tragen beinahe an nichts mehr die Schuld, statt dessen aber für fast alles die Verantwortung". Dieter E. Zimmer über das von ihm als weihevoll apostrophierte Wort "Verantwortung": "Ich übernehme die Verantwortung sagt der Politiker gern, wenn er sie sowieso hat und nichts daraus folgt" (beide Zitate zitiert nach (Wieland 1999a: 2).

Die Verantwortungsethik von Max Weber (Weber 1973e [1919] und Weber 1988c [1919]) und Hans Jonas (1979) beurteilt Wieland wie folgt: "Wenn der Verantwortungsgedanke auch versagt, sobald er als Grundprinzip einer auf ihn zu stützenden allgemeinen Ethik in Anspruch genommen wird, so ist er dennoch geradezu hervorragend geeignet, im Rahmen einer ´Ethik der zweiten Linie´ die Aufgaben eines regulativen Leitprinzips zu übernehmen. Ethiken der zweiten Linie regulieren Lebens- und Sachbereiche, deren Abgrenzungen und Grundnormen bereits vorgegeben ist" (Wieland 1999a: 95-96). Wieland zitiert zustimmend K. Bayertz: Es "ergibt sich, daß jede Theorie der Verantwortung parasitär gegenüber einer Theorie der Moral ist: Sie lebt von moralischen Wertungen, die sie selbst nicht begründen kann" (Wieland 1999a: 96, Anmerkung 51).

"Schon in ihrer antiken Ursprungsgeschichte fand sie in der Klugheit (phronesis, prudentia) die Tugend, die sich in den einer Ethik der zweiten Linie zugeordneten Lebensbereichen zu bewähren hat. Gerade der Klugheit kommt die Aufgabe zu, jede Handlung in ihrem Kontext zu betrachten, deren Folgen abzuschätzen und bei ihrer Planung in Rechnung zu stellen. Klugheitsregeln lassen sich in der Tat als Sekundärgebote legitimieren, die innerhalb des jeweiligen Bereichs immer auf Optimierungen zielen. Zumindest der Idee nach setzen sie voraus, daß die Legitimität dessen, was optimiert werden soll, bereits erwiesen ist. Die Klugheit gibt aber selbst keine letzten Ziele vor, sondern setzt umgekehrt diese voraus. [...] Klugheitsregeln haben stets instrumentellen Charakter. Man macht von ihnen Gebrauch, wo Zweck-Mittel-Relationen zu optimieren sind" (Wieland 1999a: 97).

B. Eigene Position: Praktische (normative, pragmatische und technische) Begriffe für einen genuin praktischen Diskurs

Hier sollen nun existierende Begriffe weiterentwickelt oder neue Begriffe eingeführt werden. Mit Hilfe dieser praktischen Begriffe und ebensolcher methodischer Ansätze soll eine genuin praktische Politikwissenschaft ermöglicht werden. Bei den praktischen Begriffen "Handlungsmaximen", "Handlungsstrategien, "Handlungsinstrumenten", "Handlungsanweisungen" und "praktische Urteile" orientiere ich mich an den insbesondere von Aristoteles und Kant, Wieland und Höffe gemachten Unterscheidungen (vgl. A. Ausgangspunkt: Bewertungsstufen und Imperative innerhalb eines genuin praktischen Diskurses), die allerdings einige Veränderungen erfahren (vgl. praktische-politikwissenschaft.de: 3. Schaubild: Wissenschaftliche Operationen und wissenschaftliche Diskurse am Beispiel der Politikwissenschaft und 4. Schaubild: Praktisch-politische (normative, pragmatische und technische) Begriffe).

I. Politik

Politik zeichnet sich dadurch aus, dass sie über die Kompetenz-Kompetenz verfügt: In diesem Bereich wird erstens festgelegt, welche Probleme öffentlich, welche privat gelöst werden müssen, zweitens werden hier Handlungsmaximen, Handlungsstrategien, Handlungsinstrumente und Handlungsanweisungen entschieden. Weiterhin innerhalb welcher Subsysteme, welcher Institutionen mit welche Handlungsstrategien (Ziele und Zwecke) mit welchen Handlungsinstrumente (Mitteln) die öffentlich festgelegten und von der Gemeinschaft wahrzunehmenden Aufgaben erledigt werden (z.B. konkrete Ausgestaltung der sozialen Sicherung, vgl. Lauer: soziale-sicherheit.de).

Politik, Kultur, Moral, Recht und Wirtschaft bilden keine unabhängigen Subsysteme, die jeweils einem eigenen Code gehorchen und nicht aufeinander wirken (Luhmann 1984, Luhmann 1988, Luhmann 1990, Luhmann 1997, Luhmann 2000), sondern sind verschiedene Dimensionen ein und derselben Sache. Änderungen in einzelnen Subsystemen wirken sich mehr oder weniger gravierend auf alle anderen aus. Dies hat nun für eine Untersuchung innerhalb einer praktischen Wissenschaft zur Folge, dass man schon bei der Problembeschreibung die Auswirkungen von konkreten Handlungen und Handlungsstrategien in möglichst allen oben genannten Bereichen berücksichtigen muss. Wie kann man "den ganzen Elefanten" differenziert wahrnehmen? Wenn man etwa die soziale Sicherheit als Problem behandelt, dann gibt es jeweils eine politische, rechtliche, wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Dimension des Problems.

II. Handlungsmaximen

Zu den politischen Handlungsmaximen (Leitlinien, Maximen, Normen, Prinzipien, Werte und Ziele), kantisch gesprochen Maximen des Handelns, gehören alle Normen, die nur Sollens-Sätze enthalten (ethisch-moralische Normen). Handlungsmaximen bilden das Wertesystem einer Gesellschaft ab. Sie stiften die Identität eines politischen Systems und schaffen den normativen Rahmen für soziale Abläufe, wodurch eine politische Gemeinschaft an Stabilität gewinnt. Dies gilt sowohl für Handlungsmaximen im weiteren Sinne z.B. "Gerechtigkeit“, "Gleichheit“ oder "Fairness“ als auch für sachbereichsspezifische und konkretisierbare Handlungsmaximen für die soziale Sicherheit. Wichtig ist, dass alle Handlungsmaximen, wie David Ross dies für alle ethischen Normen festgehalten hat (Ross 1967 [1930]), Prima-facie-Normen sind, d.h., man muss sich bewusst sein, dass man aus ethisch-moralischen Normen nicht direkt konkrete Handlungsanweisungen ableiten kann. Für den Bereich der Sozialpolitik unterscheide ich zwischen einer Kultur der Solidarität und einer Kultur der Eigenverantwortlichkeit. Es ist wichtig, dass diese komplementär zueinander entwickelt werden (vgl. Lauer: soziale-sicherheit.de. 5. Handlungsmaximen der sozialen Sicherheit).

III. Handlungsstrategien

Unter politischen Handlungsstrategien sind Möglichkeiten des Handelns zu verstehen, die noch nicht konkret ausgeformt sind. Diese Strategien geben den Weg vor, der beschritten werden kann, um mit Hilfe von konkreten Handlungsinstrumenten in das soziale Gefüge der Gesellschaft einzugreifen. Dabei handelt es sich immer um Optionen, die je nach Situation gewählt werden können. Handlungssubjekte sind in diesem Fall Vereine, Familien, Unternehmen, vor allem aber der Staat. Es handelt sich bei den Handlungsstrategien um technische Regeln (Seins- und Sollenssätze). Politische Handlungsstrategien sollten erstens auf einer rationalen Analyse aufbauen, zweitens langfristige, klare Ziele vorgeben und drittens erklären, mit welchen politischen Handlungsinstrumenten die für ein Politikfeld geltenden Handlungsmaximen unter Berücksichtigung der verfügbaren Mittel und Möglichkeiten zu erreichen wären. Das deutsche soziale Sicherungssystem hat fünf Säulen (Beveridge- und Bismarck-Säule, private und zivilgesellschaftliche Säule sowie die Familien-Säule) und damit fünf unterschiedliche strategische Wege, die Risiken "Armut" und "Krankheit" zu bewältigen. Diese fünf politischen Handlungsstrategien sollten beibehalten und komplementär weiterentwickelt werden (vgl. Lauer: soziale-sicherheit.de. 6. Handlungsstrategien und -instrumente).

IV. Handlungsinstrumente

Auf der operativen Ebene sind politische Handlungsinstrumente die praktische Umsetzung von Handlungsmaximen und Handlungsstrategien, deren konkrete Form auf Handlungsmaximen und Handlungsstrategien beruhen, die ihre Ausgestaltung normativ vorgeben. Dabei handelt es sich immer um Optionen, die je nach Situation gewählt werden können. Handlungssubjekte sind in diesem Fall Vereine, Familien, Unternehmen, vor allem aber der Staat. Es handelt sich bei den Handlungsinstrumenten um technische Regulierungen (Seins- und Sollenssätze). Das deutsche Sozialsystem kennt folgende gesetzliche Handlungsinstrumente: Sozialhilfe, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, Grundsicherung für Arbeitssuchende (auch Hartz IV oder Arbeitslosengeld II genannt, bis 2005 Arbeitslosenhilfe), Jugendhilfe, Kinder-, Erziehungs- und Wohnungsgeld, Ausbildungs- und Vermögensbildungsförderung, Soziale Entschädigung, Lastenausgleich, Wiedergutmachung, gesetzliche Renten-, Arbeitslosen-, Kranken-, Pflege- und Unfallversicherung. Es kommt meiner Meinung nach darauf an, die einzelnen politischen Handlungsinstrumente kohärent nach einer politischen Kultur und einer politischen Handlungsstrategie zu reformieren bzw. weiterzuentwickeln und die einzelnen Instrumente komplementär zueinander auszugestalten und nicht nach einem Patentrezept zu suchen (vgl. Lauer: soziale-sicherheit.de. 6. Handlungsstrategien und -instrumente).

V. Handlungsanweisungen

Handlungsanweisungen bzw. -entscheidungen findet man auf der operativen Ebene. Handlungsinstrumente bestehen in der Regel aus mehreren Handlungsanweisungen, die eine konkrete Handlung vorgeben, zum Beispiel die Festsetzung des Rentenalters auf 67 Jahre.

VI. Praktische Urteile

Praktische Urteile sind Bewertungen der politischen bzw. sozialen Realität, d.h. von politischen Handlungen und politischen Regulierungen.

Normative Urteile: Mit Hilfe von Handlungsmaximen wird die politische und soziale Realität innerhalb eines normativen Diskurses, in dem der normative Ansatz verwendet wird, mit den Prädikaten gerecht oder ungerecht bewertet.

Pragmatische Urteile: Mit Hilfe der Prädikate klug/unklug oder wünschenswert/unerwünscht werden die politische und soziale Realität (Handlungsstrategien, Handlungsinstrumente und Handlungsanweisungen) innerhalb eines pragmatischen Diskurses, in dem der pragmatischer Ansatz verwendet wird, bewertet.

Technische Urteile: Mit Hilfe der Prädikate effizient/uneffizient werden Handlungsinstrumente innerhalb eines technischen Diskurses, in dem der technischer Ansatz verwendet wird, bewertet (vgl. praktische-politikwissenschaft.de: 3. Schaubild: Wissenschaftliche Operationen und wissenschaftliche Diskurse am Beispiel der Politikwissenschaft).

 


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4. Pluralismus 5. Unterschiede 6. Zusammenfassung 7. Ausblick 8. Literaturverzeichnis

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Quelle:
praktische-wissenschaften.de/5-kapitel-pw.htm

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